Ruhelos

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Seit einer Woche lebte ich nun in diesem Glas. Obwohl, lebte war wohl übertrieben. Ich wartete. Denn leben tat ich seit 10 Tagen nicht mehr. Vor 10 Tagen bin ich gestorben. Vor 10 Tagen wurde meine große Liebe ermordet, als sie mich schützen wollte. Vor zehn Tagen holte der Mörder auch mich. Seit zehn Tagen bin ich ruhelos.


Die ersten drei Tage nach meinem Tod grämte ich mich nur. Ich war enttäuscht von mir selbst, dass ich einfach geflohen bin, als er mich darum gebeten hatte. Er wollte mich schützen und ist daran gestorben. Und dann hat der Mörder auch mich geholt.


Ich war traurig, dass er für mich sterben musste. Hätte ich gekämpft, würden wir vielleicht beide noch leben. Oder ich hätte den Mörder aufhalten können, für ihn.


Ich war wütend auf den Mörder und mich. Wieso hatte er uns umbringen müssen? Er hätte doch einfach mein Zauberbuch stehlen können und fliehen. Er hätte nicht morden müssen, um dieses mächtige Artefakt zu bekommen. Und ich hätte einfach mutig sein können und das Buch einsetzen müssen, auch wenn die Konsequenzen für mich verheerend gewesen wären. Ich hätte die Siegel brechen müssen und die Macht des Buches freisetzen müssen. Ich hätte kämpfen sollen und nicht fliehen.


Drei Tage lang war ich ruhelos. Dann kam sie. Sie war eine Hüterin, eine Beschützerin der Ruhelosen. Die Frau hatte langes, dunkles Haar und grüne Augen. Ihr langes Kleid war grün, ihr Schmuck aus Federn und Blüten. Jeden Tag flocht sie neue Blüten in ihre Gewänder. Sie war eine wahre Waldschönheit mit erdiger Haut und liebevollen Augen. Und sie war um meinetwillen hier. 


Die Zeit nach meinem Tod war ich immer in der Nähe meiner Leiche gewesen, auch wenn sich mein alter Körper aufgelöst hatte.  Ich war eine Seele, umwanderte die Orte an denen Alles passiert ist. Meinen Geliebten habe ich nie gesehen. Seine Seele war nun frei und ich konnte mein Versprechen, dass ich ihm einst gab, nicht halten. Einst versprachen wir uns, wir würden auf einander im Jenseits warten. Doch ich war mit Zorn im Herzen gestorben und nicht fähig, diese Welt aus eigener Kraft zu verlassen.


Als die Hüterin kam und mich entdeckte, trat sie auf mich zu. „Hab keine Angst. Ich bin hier um dich zu erlösen" hatte sie gesagt und eine Hand nach mir, meiner Seele, ausgestreckt. Sie nahm sich erst mir an, nachdem ich in ihre Hand schwebte, wollte mich nicht zwingen. Dann aber, als ich in ihrer Hand lag, griff sie nach ihrer Magie.


Ich wusste, dass Hüter Magie besaßen. Ich wusste genau, dass sie meine letzten Augenblicke sehen würde, meine Gefühle wahrnehmen würde. Ich wusste, dass sie meinen Tod erfahren würde. Und ich wusste, dass sie meine Feigheit sah. Dennoch ließ ich mich auf die Hüterin ein und ließ sie sehen, was war. Ich wollte die Erlösung mehr, als dass ich meine Feigheit verstecken wollte. Ich wollte mein Versprechen einlösen.


Anstatt mich zu verspotten oder auf mich herab zu sehen, wie ich es erwartet hatte, wurde der Blick der Hüterin sanft und verständnisvoll. Sie war unendlich gütig gewesen. „Du musst ihn wirklich sehr geliebt haben. Genauso wie er dich. Ich bin sicher, dass er sehnsüchtig auf dich wartet. In sieben Tagen ist Neumond, dann bringe ich dich zu ihm" hatte sie gesagt und mich, die kleine Seele in ihren Händen, angelächelt. Das war der Moment, in dem Hoffnung in mir aufkeimte. Seit meinem Tod war es der erste Moment, in dem ich etwas Anderes als Zorn und Trauer empfand.


Die Hüterin legte mich in das Glas an ihrem Gürtel.  Es war nicht allzu groß, aber eine Seele war klein, weshalb das Glas völlig ausreichte. Man hörte immerzu ein Jammern und Klagen von uns ruhelosen Seelen.


Ich war nicht alleine in dem Glas. Zwei weitere Seelen lagen ebenfalls darin. Die eine Seele war gelblich gefärbt, wie Wundsekret. Sie gehörte einer Frau, die von ihrem Mann vergiftet wurde. Er hatte sie getötet, um Platz in seinem Leben für seine Liebhaberin zu schaffen. Sie war quälend langsam an dem Gift gestorben. An ihrem Sterbebett hatte ihr Mann ihr eiskalt Alles gesagt. Sie war eine verletzte und zornige Seele.


Die andere Seele war die eines jungen Mannes. Seine Farbe war tiefblau, wie Tinte. Nach einer langen Nacht mit viel Alkohol ist ein Streit mit einem seiner Freunde eskaliert. Er erinnert sich kaum mehr an etwas, doch er erwachte mit der Leiche seines Freundes neben sich und einem Messer in den Händen. Der Mann hatte sich aus Schuld und Trauer erhängt.


Im Laufe der Zeit kamen zwei weitere Seelen hinzu, beide in einem rosigen Farbton. Es waren Geschwister, ein Mädchen und ein Junge. Sie sind gestorben, weil ihre Eltern sie ausgesetzt hatten. Arm in Arm sind sie gestorben, voller Trauer und Verzweiflung


Jeden Abend, bevor die Hüterin sich schlafen legte, holte sie uns Ruhelose aus dem Glas und sprach mit uns. Sie erzählte uns, wie sie uns wahrnahm und wie sie uns verstand. Wie sehr sie uns wünschte, dass wir frei sein können. Sie sprach mit uns wie eine Mutter mit ihren Kindern, liebevoll und herzlich. Es waren glückliche und traurige Gespräche zugleich.


Sie störte sich nicht ein einziges Mal an unserem Jammern und Wimmern. Wir Ruhelosen brauchten keinen Schlaf, daher weinten wir manchmal des Nachts. Wann immer die Hüterin von unserem Klagen aufwachte, nahm sie uns Seelen aus dem Glas und spendete uns Trost. Sie war wie eine Eiche, stark und in sich ruhend, mit enormer Kraft.


Und jetzt war der Moment des Abschieds gekommen. Sie stand unter dem mondlosen Himmel und sprach magische Worte. Wir Seelen waren aus dem Glas befreit worden und schwebten nun um unsere Retterin im Kreis. Ihr Singsang war in einer fremden Sprache, doch er war melodisch und sanft, wie ein Schlaflied. Und je länger sie sang, umso mehr spürte ich, wie die Trauer, die Wut und die Enttäuschung von mir wichen. Sie sang und unser Weinen und Klagen verstummte immer mehr. Irgendwann endete sie und ich spürte nur noch Hoffnung. Hoffnung und Liebe und die Freude darauf, meinen Geliebten endlich wieder zu sehen.


Langsam drehte sich die Hüterin um sich selbst, sah uns Seelen an. Sie lächelte glücklich und zufrieden, Tränen glänzten in ihren Augen. „Gute Reise. Ich wünsche euch das Glück aller Welten" sagte sie und riss die Arme lachend nach oben. Ihr Lachen klang wie ein helles Glöckchen,  es verklang leise, je weiter wir uns entfernten. Mit der Bewegung ihrer Arme wurden wir Seelen hoch geschleudert, in die nächste Sphäre.


Das nächste was ich sah, war er. Seine Augen waren unheimlich sanft, als er mich ansah und er schenkte mir ein Lächeln. Ich streckte einen Arm aus, beinahe stumm vor Glück und mit Tränen in den Augen. Er hatte auf mich gewartet! Er zog mich in seine Arme und ich weinte lange. „Du hast mir gefehlt" schluchzte ich überglücklich, während er mir zärtlich durchs Haar strich. Ich hatte meinen Körper vermisst, hatte es vermisst Dinge wirklich zu spüren.


Wir standen noch lange bei einander, ehe wir das Tor zum Jenseits durchschritten. Doch bevor ich ging, warf ich noch einen Blick auf die Welt der Lebenden. Die Hüterin starrte hinauf in die mondlose Nacht, lächelte in die Dunkelheit. Ein winziges Wort kam mir über meine Lippen:


„Danke"


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