8 - Wesen in Tulan

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Die Wachen des Königs waren erstaunlich schnell aus Tulan verschwunden, nachdem sie den Yeti gefangen genommen hatten, und keiner wusste, wohin sie gingen. Ihre Schemen hatten sich in der Dunkelheit verloren, wie schreckliche Schatten der Nacht, die ebenso heimlich auftauchten wie verschwanden, und bei ihrem Abgang hatten sie gleich das halbe Lager Diamanten als Steuern mitgenommen.

„Für das Königreich", hatten sie gesagt.

Calida bekam die Informationen geschwind zusammen, nachdem sie gegessen, sich gewaschen und nach ihrer Mutter gesehen hatte, denn ganz Tulan war auf den Beinen. Die Menschen stürmten auf dem Marktplatz zusammen, wild versammelt auf einen Gong, und ihre Worte tönten lauter als der Wind. Wie eine schnelle Melodie, die die Ängste ihrer Kindheit ins Leben rief. Sie verwirrten Calida, doch schlimmer als das Chaos war der Anblick, der sich ihr bei wachem Hinsehen bot:

Der Yeti hatte eine Schneise der Verwüstung hinterlassen. Kaum hundert Meter von der Stelle entfernt, wo sie in die Berge gegangen war, hatte er ihr Reich betreten - er hatte auf seiner Flucht Bäume zerschlagen und Äste geknickt. Noch jetzt zeichnete sich die Stelle ab, wo die Wachen ihn gefangen hatten: Ein schneebedeckter Schatten, der nichts als Leere ließ. Calida starrte ihn an, taumelte durch die Gassen, doch ihr Herz pochte lauter als der Sturm und übertönte ihre Fragen.

Wen interessierte schon, warum der Yeti nach Tulan gekommen war und was mit ihm geschehen würde? Er hatte eine Scheune zerstört. Zum ersten Mal seit fünf Jahren war ein magisches Wesen in ihrem Dorf gesichtet worden - die Folgen davon waren ein viel größeres Problem.

„Ruhe, bitte Ruhe", versuchte es Keano Salos, ebenfalls Dorfrat von Tulan und begnadeter Redner, doch er bekam die Masse nicht zum Schweigen. Endra und Krunhilde Tallos stritten mit einem älteren Herrn, jemand zankte über ihre Köpfe hinweg und irgendwo hörte Calida ein Kind weinen. Erschöpft schob sie sich an den Rand und schloss die Augen. Ihr Kopf schmerzte, ihre Gedanken dröhnten, aber ihr Herz fühlte sich zerrissen. Tulan war ihre Heimat - sie wollte nicht, dass die Menschen Angst hatten. Sie stand auf dem Bordstein und überblickte die Masse, doch den Überblick hatte sie längst verloren.

Wer hatte den Yeti gesehen? Was war heute Nacht wirklich geschehen?

Ruhe!", brüllte da eine weitere Stimme und überraschte Stille kehrte ein. Ein Lehrer von Calida räusperte sich und schaute betreten zur Seite. „Geht doch", murmelte er.

Er nickte zu Keano, welcher unschlüssig an seinem Mantel nestelte, und Wind zerrte an seinen Haaren wie an Feuer im Kamin. Dann richtete er sich auf.

„Wie ihr alle wohl bemerkt habt, hat sich heute Nacht ein Yeti in unserem Reich verirrt", setzte er an und die Menge stöhnte. Der Stadtrat fuhr unbeirrt fort: „Nur dank der magiegepolten Kompasse unseres Königs konnten die Wachen den Überfall rechtzeitig bemerken und größeres Unheil abwenden. Tulan hat zwar einen kleinen Schaden erlitten, doch größer ist der Schreck bei uns allen. Ich denke, der Vorfall ist eine gute Erinnerung, warum Magie so gefährlich ist und unbedingt von unserer Welt verbannt gehört."

Die Worte bohrten sich wie ein Eiskristall in die Menschenmasse und erschufen eine Kuppel der Stille über der Welt. Calidas Inneres zog sich zusammen. Einst hatte sie das Gleiche gedacht. Hätte Zaharian ihr nicht gezeigt, was möglich war, hätte sie gewiss mit den anderen genickt.

Stattdessen blieb sie stumm.

Keano räusperte sich erneut: „Der Stadtrat wird sich ausführlich über den Vorfall beraten, um weiterhin unser aller Sicherheit zu gewährleisten. Wir werden Vorkehrungen treffen. Welcher Art diese sein werden, ist noch ungewiss ... Doch ihr könnt sicher sein, dass sowas nicht erneut geschehen wird."

Mit seinem beruhigenden Lächeln floss eine Welle der Sicherheit über die Stadt wie eine Lawine über einen Berg und riss die Stille fort; zartes Murmeln wallte auf. Wie das Rascheln von Blättern im Sturm, wenn der Wind durch seine Äste rauschte.

Das Herz des Silberdrachens | Fantasy (Novelle)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt