Paris bei Nacht

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„Pass auf dich auf, meine Kleine. Sei vorsichtig und ruf mich sofort an, wenn irgendetwas ist." Genervt seufzte ich auf. Das erste Mal war ich allein in Paris und es schien, als wäre meine Mama noch nicht bereit, zu akzeptieren, dass ich für so etwas längst alt genug war. Um sie aber zu beruhigen sprach ich in mein Handy: „Ja, Mama. Ich pass gut auf mich auf, ich weiche schon nicht vom Weg ab. Ich bin doch kein Rotkäppchen.  Und sobald etwas passiert, bist du die Allerstere, die davon erfährt. Keine Angst." Jetzt konnte ich sie seufzen hören.


 „Bitte, mach dich nicht lustig über mich, ich bin auch nur eine Mutter. Also gut, ich rufe dann heute Abend nochmal an. Ich hab dich lieb." „Ja, ich dich auch. Mach's gut." Schnell legte ich auf, bevor meine Mutter noch weitere Dinge aufzählte, vor denen ich mich hüten sollte. Mit meinen achtzehn Jahren war ich alt genug um mich allein in einer Stadt zurechtzufinden. Ich steckte mein Handy in meine kleine französische Tasche, die ich gestern auf einem süßen Flohmarkt gekauft hatte und schlenderte durch die Straßen.


Überall kamen mir hübsche, gut gekleidete Französinnen entgegen. Einige beim Bummeln, andere sich wild mit einer Freundin oder ihrem Mann am unterhalten.

Ab und zu blieb ich an den Schaufenstern stehen und schaute mir die wunderschönen, aber leider viel zu teuren Kleider an. So schön Paris auch war, so sehr wurde auch der Geldbeutel strapaziert. Ich ging also weiter. Aber nur um keine zehn Meter wieder anzuhalten. Ich stand direkt vor einer alten eichenen Tür mit einem kleinen runden Fenster durch das man in das Innere der kleinen Buchhandlung schauen konnte. Ein Schild über der Tür verlautete den Namen des beschaulichen Ladens: „Petit livre"


Irgendetwas zog mich in den Laden rein und so vernahm ich kaum das leise Glöckchen, dass mein Eintreten ankündigte. Ich streifte die hohen Buchregale entlang. Warmes, orangenes Licht strahlte durch den ganzen Raum und hier und da flackerte eine Glühbirne in einer der vielen unterschiedlichen Lampen. Ein angenehmer Geruch nach Holz und Papier lag in der Luft und ein paar urigen Ohrensessel luden zum Lesen ein. Ich stöberte ein bisschen in der Romanecke und schlenderte dann zu anderen Regalen.


Die ganze Zeit hörte ich kein Wort, kein anderes Papierrascheln. Ich schien die einzige Besucherin hier zu sein. Nach einigen Minuten stieß ich an ein Regal voller Märchenbücher. Schon immer hatte ich ein Faible für die alten Geschichten. Langsam und sanft strich ich über die Buchrücken und las mir die Titel durch. Nur gut, dass ich Französisch Leistungskurs in der Schule belegt hatte, sonst wäre ich hier verzweifelt. Aber so konnte ich die vielen Märchen erkennen. Hier fanden sich Dornröschen, Aschenputtel und auch Sternentaler wieder. Und irgendwann hielt mein Finger an. Vorsichtig zog ich das Buch heraus und strich zärtlich über den Einband. Es war, als hätte ich einen verloren gegangen Schatz wieder gefunden. Ich hielt die Geschichte vom Glöckner von Notre dame in den Händen. Als Kind hatte ich Quasimodo geliebt. Ich sog alles in mich auf, was ich über ihn in die Finger kriegen konnte. Meine Mutter hatte mich zeitweise sogar als besessen bezeichnet.


Aber als ich neun Jahre alt war, verlor ich mein liebstes Exemplar des Märchens. Ich hatte mein ganzes Zimmer auf den Kopf gestellt, um es zu finden, doch nirgends im Haus war es aufzutreiben. Dieses Ereignis beendete meine Liebe zu Quasimodo. Es war, als hätte er mich verlassen.

Und jetzt hielt ich ein exakt identisches Exemplar, wie das, das ich verloren hatte in den Händen. Der dunkelrote Umschlag, die goldene, verschnörkelte Schrift, das handgezeichnete Bild eines buckeligen Jungens, alles stimme überein. Ich drückte das Buch an mich und schluckte. Niemals hätte ich gedacht, dass mir so etwas Gutes hier in Paris wiederfahren könnte.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Sep 17, 2016 ⏰

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