Brannte uns nicht das Herz?

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Wer mich kennt weiß, ich bin – bei Gott! – kein großer Fan der Bibel, und trotzdem muss auch ich erkennen, dass sie manch schöne Geschichte zu erzählen weiß. Besonders die Ostermontagserzählung des Emmausganges sticht hier für mich heraus: Sie berichtet von zwei Jüngern, die auf dem Weg von Jerusalem nach Emmaus von dem auferstandenen Jesus begleitet werden. Den ganzen Weg lang erkennen sie ihn jedoch nicht, bis er beim Abendessen in ihrem Haus das Brot bricht – sobald sie erkennen, dass ihr Weggefährte Jesus war, können sie ihn allerdings schon nicht mehr sehen. „Brannte uns nicht das Herz in der Brust", fragen sie sich dann selbst in ihrer Melancholie über das Vergangene.

Gewiss kann ein findiger Priester aberdutzende Lehren aus dieser Geschichte herauslesen, diejenige, die mich aber immer am meisten berührt, ist der in sich so brennende Satz „Brannte uns nicht das Herz?". Die Jünger haben auf dem Weg mit Jesus eine gute Zeit, reden mit ihm über die Bibel und die Prophezeiungen, erkennen das Feuer, das dort in ihrem Herzen brannte, jedoch erst, als Jesus nicht mehr unter ihnen zu sein scheint. Der Satz erinnert mich an eigene Momente, die ich mit den Menschen, die ich liebe, verbringen durfte, und lässt mich jedes Jahr innehalten und staunen über die Auswirkung, die sie in meinem Herzen hinterließen. Ich wäre nicht ich ohne diese Momente, sie prägen mich auf ganz bedeutende Weise und lassen mich wertschätzender, glücklicher und – auch innerlich – lächelnder werden.

Um ein wenig abzuschweifen, möchte ich kurz über die Bedeutung von Bildern in diesem Kontext reden. Denn was wären Momente ohne Bilder? Es wären reine Erzählungen, die mit dem unbarmherzigen Fegefeuer der Zeit verblassen würden, verändert und leerer würden. Zwar können auch Erzählungen einen großen Emotionsgehalt mit sich bringen, eine Erzählung kann aber, wie es beim Klatsch und Tratsch deutlich wird, mit der Zeit verfälscht werden und ein falsches Bild abliefern. Des Weiteren fordert eine Erzählung ganz selbstverständlich einen Gesprächspartner, und währen das oft sehr bereichernd sein kann, birgt dieser Umstand auch die Gefahr, dass der Inhalt von Gesprächspartner zu Gesprächspartner verschieden sein kann: Die Erzählung verschwimmt.

Bilder aber – und ich spreche hier von Kunstwerken über Handyfotos bis zu den Bildern in meinem Kopf – haben die ganz besondere Eigenschaft, einen Anker in das stürmische Meer des Zeitverlaufes auszuwerfen. Was meine ich damit? Nun, es mutet schon fast furchteinflößend an, wie flüchtig die Gegenwart ist. Alle Zukunft und alle Vergangenheit machen grundsätzlich die gesamte Zeit aus, die existiert, und doch nehmen wir alles in dem infinitesimal kleinen Übergang von Vergangenheit in Zukunft wahr, der sich Gegenwart schimpft. All unsere Existenz, all unsere Erfahrungswerte spielen sich also in einem Bereich ab, den wir unmöglich vermessen und geistig nur oberflächlich fassen können. Wäre das nicht schon schlimm genug, sagt uns Einstein zu allem Überfluss, dass dieser verflixt unscheinbare Moment nicht einmal für jeden Menschen zur gleichen Zeit passiert, nein, dass Gleichzeitigkeit nicht einmal existiert! In diesem Chaos scheint es umso erstaunlicher, dass wir mit Bildern die Gegenwart schnappen können, sie klipp und klar festhalten. Der Bildinhalt spielt sich zwar immer gänzlich in der Vergangenheit ab, doch handelt es sich um einen Beleg von einem Moment. Das Bild macht den Moment greifbar, und obgleich es auch leicht verfälscht und Inhalt weglässt, stellen sie einen verlässlichen Anker dar, an dem sich die Erinnerungen aller beteiligten Personen festhalten können, an dem das Geschehene wie eine Ranke weitergesponnen werden kann. Bilder haben die erstaunliche Fähigkeit, das Feuer, das zu diesem Zeitpunkt unmerklich in meinem Herzen brannte, merklich von neuem zu entfachen, und ermöglichen es mir, mich an dem Gedanken festzuhalten.

Mit diesen Erwägungen im Gepäck möchte ich zurückkehren auf die Bilder und Fotos, die ich gerade vor mir sehe: Es sind altbekannte dabei, deren Feuer noch ein kleines Kinderherz erwärmen mochte, und neue, deren Feuer mir noch an keinem Ostermontag zuvor Orange in meine Augen spiegelte. Ich sehe Fotos von unglaublichen Erlebnissen auf Reisen, die ich mit Freunden tat, sehe uns lachen und Spaß haben, sehe uns feiern und tanzen. Ich sehe Fotos von unverhofften Momenten, die aus Zufall aufgenommen wurden, und so erst prominent im Gedächtnis verankert wurden. Und ich sehe Fotos, in denen die Liebe ihre Flammen projiziert, sehe mich in den Armen meines Freundes, wie wir uns küssen oder einfach nur betrachten, wie wir in uns gegenseitig ein Feuer finden. Und mit diesen neu erwachten Erinnerungen kann ich voller Gewissheit sagen: Ja, uns brannte das Herz! Es brannte, als wir gemeinsam unsere Geschichten schrieben, als wir Neues entdeckten, das noch nie zuvor jemand wusste, als wir unser Potential als Team entdeckten, als wir uns liebten, uns wertschätzten, uns umarmten. Auch wenn es im Moment schwer wahrzunehmen ist, brennt das Feuer für immer und treibt so unser Leben voran.

Ich hoffe, dass jeder von euch an diesem Ostermontag ein Feuer fühlen kann.

Brannte uns nicht das Herz?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt