Eine unschöne Überraschung

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Es war Sonntag. Der kleine Zeiger der alten Standuhr hatte soeben die Acht erreicht, als die Klingel die Stille eines friedlichen Morgens zerriss. Mit einem Seufzen ließ Jim Castor seine Frau am Küchentisch zurück und machte sich, in seinen blauen Lieblingsbademantel gewickelt und eine Tasse Kaffee in der Hand, auf den Weg zur Tür. Wer störte zu dieser gottlosen Stunde? Jim war nicht unbedingt erbost über den Besuch, doch er verspürte einen gewissen Verdruss. Er genoss die morgendliche Gespräche mit seiner Frau, während ihr Sohn noch immer friedlich oben in seinem Zimmer schlief. Glücklicherweise war Jake kein leichter Schläfer, sodass die Eltern gute Chancen hatten, ihre Zweisamkeit noch ein wenig länger genießen zu können, sobald der Besuch verschwunden war. Wie hätte Jim auch ahnen sollen, dass sein Leben dabei war sich für immer zu verändern?

Als Jim die Tür öffnete, starrte er geradewegs in ein ihm bekanntes Gesicht. Es war dieser Moment, der ihn begreifen ließ, dass der friedliche Morgen endgültig vorbei war. Der Mann vor ihm war breit wie hoch, sein aschblondes Haar wies feine Spuren von Silber auf und seine Augen hatten die Farbe von goldenem Whiskey.

"Kasimir!", entfuhr es Jim. Entgeistert starrte er den Cousin seiner Frau an.

"Guten Morgen, Jim!" Kasimirs Grinsen wurde breiter, was wölfische Eckzähne zum Vorschein brachte. "Ich hoffe, ich störe nicht. Habt ihr immer noch eure kleinen, süßen Morgengespräche?"

Jim war drauf und dran seinem Verwandten die Tür vor der Nase zuzuschlagen, aber das wäre kindisch gewesen, also erwiderte er stattdessen:

"Ja, haben wir. Komm doch rein!"

Er machte einen Schritt zur Seite, sodass Kasimir eintreten konnte.

"Danke! Du siehst gut aus, vielleicht ein bisschen grauer an den Seiten." Kasimir lächelte noch immer, doch es war offensichtlich, dass er Jim provozieren wollte.

Es grenzt an ein Wunder, wenn ich noch Haare habe bis du wieder verschwunden bist, dachte sich Jim.

"Danke. Du siehst auch aus, als würde es dir geradezu bestens gehen. Also was führt dich her? Versuchst du wieder meinen Sohn zu einer Straftat zu überreden?"

"Jim!", lachte Kasimir und legte einen Arm um Jims Schultern, wobei er ihn unsanft an sich zog. "Das würde ich mich nicht trauen, immerhin weiß ich doch, dass ihr es nicht gutheißen würdet. Ich bin nur hier, um meiner geliebten Cousine und ihrer wunderbaren Familie einen kurzen Besuch abzustatten."

"Gut. Denn das nächste Mal lässt dich Melinda sicher nicht davon kommen."

Jim nahm einen genüsslichen Schluck seines Kaffees, als Kasimirs Lächeln für einen Wimpernschlag schwand. Kasimir mochte kein begabter Hexer sein, aber Jim war nur ein einfacher Mensch und so zeigten seine Drohungen selten den gewünschten Effekt bei Kasimir. Melinda, wiederum, war eine äußerst begabte und angesehene Hexe und eine der wenigen, deren Name ausreichend war, um Kasimir einen kalten Schauer über den Rücken zu jagen. Somit war es eine logische Konsequenz gewesen, sie zu benutzen, um Kasimir dazu zu bringen, ihren Sohn in Frieden zu lassen.

Verdammt, es fühlte sich gut an, einmal die Oberhand zu haben.

Vielleicht ist doch ein guter Tag, dachte Jim und nahm einen weiteren Schluck seines Kaffees.

"Kasimir, was für eine freudige Überraschung!"

Melinda war in der Tür erschienen, neugierig was ihren Ehemann so lange aufhielt. Obwohl sie einander schon eine Weile nicht mehr gesehen hatten, schien Melinda nicht überrascht über Kasimirs plötzlichen Besuch. Sie lächelte ihn an, wie andere einen Bruder anlächelten, doch etwas in ihren Augen zeugte von Misstrauen.

"Melinda, meine Liebe, wie gehts dir?"

Als Kasimirs seine Cousine erblickte, erhellte sich sein Gesicht schlagartig. Sein Lächeln wurde breiter und aufrichtiger. Er zog Melinda in eine Umarmung, wobei er ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange drückte.

"Mir gehts gut. Wie ist es dir in letzter Zeit ergangen? Habe dich schon lange nicht mehr hier gesehen. Was hast du gemacht?", fragte Melinda, als Kasimir sie aus seiner Umarmung entließ.

"Nichts besonderes", entgegnete dieser vage. Es war nicht so, dass er hätte genauer werden müssen. Jim und Melinda wussten auch so, was er damit meinte. Er war mit etwas Illegalem beschäftigt gewesen und weil Melinda und Jim es nicht gutheißen würden, zog es Kasimir vor zu schweigen. Nicht, dass es Melinda und Jim sonderlich interessierte, was er trieb. In der Vergangenheit hatten sie mehrfach versucht Kasimir dazu zu bringen einen aufrechteren Pfad einzuschlagen. Aber umso mehr sie auf ihn eingeredet hatten, desto vehementer hatte er an seiner Arbeit festgehalten. Selbst als Kasimir von seiner eigenen Familie verstoßen worden war, weil er das Grab einer bekannten Hexe ausgeraubt hatte und dabei erwischt worden war, was Schande über die gesamte Familie gebracht hatte, hatte er weitergemacht. Seitdem war Melinda die einzige geworden, die ihn überhaupt noch als Familie betrachtete. Aber das war gewesen, bevor Kasimir begonnen hatte Melindas Sohn mit auf seine Ausflüge zu nehmen und so ihr Vertrauen in ihn langsam aber stetig zerstört hatte. Melinda und Jim wussten, dass es nur noch eine Frage der Zeit war, bis Kasimir ihr Vertrauen komplett missbrauchen würde, auch wenn das bedeutete die einzige Familie zu verlieren, die er noch besaß. Kasimir würde entweder kämpfend untergehen, oder gar nicht, zumindest schien das sein Motto zu sein. Für Kasimir war das Leben einzig und allein da, um seine Bedürfnisse zu erfüllen, ungeachtet aller Konsequenzen.

"Möchtest du einen Kaffee?", fragte Melinda und gab Kasimir ein Zeichen ihr in die Küche zu folgen.

"Sehr gerne!"

Wenige Minuten später saßen die drei Erwachsenen am Küchentisch und tranken schweigend aus ihren Tassen, während sie einander immer wieder verstohlene Blicke zuwarfen. Jim wusste nicht, wie lange es dauerte, bis Melinda endlich ansprach, was sie alle dachten. Jim hatte entschieden, dass er nicht in der Position war, das Gespräch zu führen. Da es eine Familienangelegenheit war, sollte Melinda das Problem klären.

"Warum bist du hier, Kasimir?", fragte Melinda ruhig.

"Ich war in der Stadt und dachte, es wäre unhöflich euch keinen Besuch abzustatten. Immerhin sind wir Familie. Oder ist meine Anwesenheit zu einer Bürde für euch geworden?"

"Ich bitte dich Kasimir", konterte Melinda, "es gibt es nur zwei Gründe, warum du uns aufsuchst. Entweder du steckst in Schwierigkeiten und brauchst meine Hilfe, oder du möchtest meinen Sohn dazu bringen, dich zu einem deiner Trips zu begleiten. Da du hier sitzt und seelenruhig deinen Kaffee trinkst, ist es wohl zweiteres. Wenn das der Fall ist, muss ich dich bitten zu gehen."

"Wow, direkt wie eh und je." Kasimir lachte, augenscheinlich gleichgültig gegenüber Melindas Worten. Er öffnete den Mund um etwas zu erwidern, doch er wurde unterbrochen. Ein Teenager mit zerzaustem braunen Haar und schwarzen Jogginghosen war in der Tür erschienen.

"Onkel Kas!", rief Jake aus. In seinen Augen leuchtete die Vorfreude auf ein neues Abenteuer.

Of Witches & Graves (deutsch)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt