Der große Seitenumbruch

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Es war ein ganz normaler Morgen als das Licht der ersten Sonnenstrahlen durch die Gardinen des Altbaufensters drangen und den Raum begannen zu erleuchten. Zwischen all den Klamotten auf dem Boden und dem Berg an Decken konnte man ihn zunächst kaum erkennen, doch mit voranschreitenden Stunden streifte das Licht schon bald den durchtrainierten Körper und schließlich die strubbelige Frisur des Zimmerbewohners, dessen Gesicht sich bisher noch tief in seinen Kissen versteckte.

Es war wieder eine lange Nacht gewesen. Was eigentlich nur ein kurzes Update werden sollte, waren wieder Stunden und Stunden von unermüdlichem Ackern geworden. Er wusste, so konnte es nicht ewig weitergehen. Selten hatte er eine Beziehung erlebt, die so einnehmend war. Er wollte sie gleichzeitig nie wieder sehen und hatte doch den Drang, jede wache Stunde mit ihr zu verbringen. Auch wenn er was anderes machte, war sie immer in seinen Gedanken. Auch wenn er wusste, dass er sich schon bald von ihr trennen muss, so versuchte er mit aller Kraft nicht daran zu denken, was nach ihr kommen würde.

Der junge gut aussehende Student versteckte seinen Kopf bis zu seinem muskulösen Hals unter dem Kissen und seufzte ins Bettlaken. „Es hilft ja nichts". Er drehte sich um und sah, dass sie noch genauso da lag, wie zu dem Zeitpunkt, an dem er eingeschlafen war. Schon oft war es passiert, dass sie gemeinsam in den Ruhemodus gegangen sind, während sie noch auf ihm war, doch in letzter Zeit war es immer seltener geworden. Er wusste, dass sie sich fragte, ob es daran lag, dass sie immer dicker wurde, dabei empfand er etwas mehr Seiten eigentlich als ganz attraktiv. Doch wie kann man jemanden sagen, mit dem man so viel Zeit verbringt, dass es zwar wahr ist, dass es ihm schwerfiel, noch zu atmen, aber es viel mehr die psychische Last war, die seine Brust eindrückte.

Er strich langsam über das Gehäuse seines Laptops, bevor er ihn behutsam mit zwei Fingern öffnete.

„Oh", rief die Masterarbeit überrascht. „Ich hatte dich noch nicht erwartet!" Während sie sprach, versteckte sie sich halb hinter einem Browser-Fenster und versuchte hektisch ein Bild wieder korrekt einzufügen.

„Hey", raunte der Student, „Hast du gut geschlafen?". Sie kicherte leicht verlegen. Auch wenn die vergangenen Wochen ein Test ihrer Beziehung waren, hatte er das Gefühl, dass sie sich gerade in den letzten Tagen so richtig mit Leben gefüllt hatte.

„Ich ... ich habe es versucht". Während sie sprach, schaute er sich um und entdeckte die Zeichen der vergangenen Nacht. Die falsch formatierten Text-Passagen, das Datum, welches im Gefecht des Schreibens eine Aufzählung wurde und schließlich all die Kommentare, in denen einfach „fehlt noch Quelle" stand. Er musste lächeln, so vieles davon hatte er schon mal erlebt. Damals bei seiner Bachelorarbeit. Auch sie wirkte so unbeholfen, als er sie begann zu sehen, doch als sich ihre Wege dann trennten, war sie eine ganz andere, leicht weniger unbeholfene Abschlussarbeit.

Der Student strich über die Tastatur. „Bist du bereit für eine weitere Runde?".

„Oh", sagte die Masterarbeit. „Ich ... ich bin mir nicht sicher. Meine Fußzeile ist noch ganz ... kursiv".

Er starrte ihr direkt in die Satzzeichen. Er wusste, dass sie in seinen Händen zu Wachs werden konnte, wenn er nur wollte. Mit einigen gekonnten Handgriffen waren ganze Kapitel auf einmal umstrukturiert. Bevor sie Harvard-System überhaupt sagen konnte, waren ihre Fußnoten auf einmal hinter ihren Klammern in Text gepackt und er fügte mehr Quellen ein als sie jemals glaubte ertragen zu können. Doch sie ertrug es, denn sie war eine gute Masterarbeit.

„Ich werde ganz vorsichtig sein", flüsterte er in ihre Speech-To-Text-Funktion. Er richtete sich im Bett auf, griff zu seiner Maus und spannte das Kabel vor der Kamera. „Vertrau mir nur". Der Cursor blinkte vor Erregung. Langsam fing er an, den Zeilenabstand zu erweitern und in ihr Unterkapitel zu tippen. Mal kurze Sätze, mal Gedankenstriche, in letzter Zeit hatte er gelernt, was man mit einem Semikolon so alles anstellen konnte, wenn man nur wusste, was man macht.

Sie fühlte sich im freien Fall, wie eine Silbe in einer neuen Zeile. Als würde ihr ganzer Einzug um einen Schritt nach rechts geschoben werden. Stichpunkte wurden zu Fließtext und sie hatte das Gefühl, dass sie bald aus ihrer Formatvorlage explodieren würde, während ihr Inneres in drei Spalten geteilt wird. Sie wusste, bei ihm gab es kein Erbarmen. Beizeiten wirkte es so, als würde er sie mit Absicht vergessen und so tun, als würde sie gar nicht existieren, doch wenn sie, wie jetzt, allein in seinem Schlafzimmer waren, gab es kein Entkommen mehr von seinen großen tippenden Händen.

Zuweilen hörte er mitten im Satz auf, nur um daraufhin immer weiter und weiter neue Aspekte einzubügeln. Darüber Lesen, Ergänzen und Korrigieren wechselten sich pausenlos und beständig schneller ab. Mal fügte er etwas ins Literaturverzeichnis hinzu, mal strich er etwas aus der Einleitung, aber doch kam er immer und immer wieder darauf zurück, den Methodik-Teil erbarmungslos zu bürsten.

„Ich kann nicht mehr", seufzte sie, „Ich bin doch nur eine einfache Masterarbeit. Ich bin keine von diesen starken Dissertationen, die ich auf dem Computer gefunden habe".

„Oh glaub mir, du bist so viel mehr", antwortete der Student. „Ich weiß, was alles in dir steckt." In seinem Wahn wusste er nicht, ob er den nächsten Satz später bereuen wird, aber er wusste auch, dass er nie wieder so gut passen würde. „Ich ... ich will mit dir ein Paper machen."

Das gab der Masterarbeit den Rest. Sie scrollte sich einmal von oben nach unten durch, nur um sich dann schließlich automatisch zu speichern und als PDF zu exportieren.

Einige Minuten vergingen, in denen sie sich einfach nur anschauten. Dann sagte die Masterarbeit „Ich hätte nicht gedacht, dass ich diese Worte noch mal von dir höre."

Der Student lächelte und erwiderte in seinem verschmitzten Ton: „Und ich kann nicht glauben, dass wir drei Tage vor Abgabe fertig geworden sind."

Der Master der ArbeitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt