Leseprobe gesamter Prolog

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Prolog 

Aufgeschlagen liegt es da, seit Anbeginn der Zeit bewacht ... 

Schwere Schritte hallten durch den Korridor der absoluten Finsternis. Nichts anderes war zu hören. Kein Rascheln, kein Atmen. Plötzlich erklang aus der Ferne ein böses Kichern. DERJENIGE, der durch die Finsternis schritt, hob die behandschuhte Hand, und schließlich kehrte wieder Stille ein. Niemand außer IHM hatte das Recht, hier in diesem Korridor Geräusche zu verursachen. ER schritt weiter voran, hatte keine Eile. Bald stand er vor einem strahlend weißen Altar, der das einzige Licht in dieser von Dunkelheit gefluteten Welt erzeugte. Auf der steinernen Oberfläche, die glatt und rau zugleich war, lag ein schwerer Einband. Dieses uralte Buch war von Licht und Finsternis gleichermaßen erfüllt. Alles Wissen des Universums wurde darin festgehalten und nur die höchste aller höchsten Lebensformen und Wesen konnte in diesem schweren, grauen und großen Werk lesen. ER trat vor den leuchtenden Altar, streckte seine behandschuhte Hand nach dem Einband aus, und bevor ER es auch nur berührte, klappte das Grimoire wie von Zauberhand auf. ER versuchte zu lesen, doch die Seiten waren leer. Donnergrollen rauschte durch die Dunkelheit und ließ den Altar erzittern. Das Buch schloss sich wieder und ER stapfte durch die Dunkelheit davon. Das Donnergrollen wurde immer lauter, bis es SEINE schweren Schritte gänzlich übertönte. Es war an der Zeit, den Rat der Sieben zusammenzuführen und über die leere Zukunft zu entscheiden. Vor einigen Zeiten war der Rat das erste Mal zusammengekommen, doch ER hätte niemals mit einer so frühen Wiederkunft gerechnet. Es gab nur eine Gewalt, die über IHM stand, und diese hatte entschieden ... 

 »Nein!«, schrie ich aus voller Kehle. Mussten diese niederen Kreaturen mir denn alles wegnehmen? Sie waren so zahlreich und hinderten mich daran, die Frau, die ich liebte, zu retten. Mühsam und mit aufgeschlitzter Kehle wandte meine Frau in der Ferne den Kopf zu mir um. An ihren Lippen konnte ich ihre vorwurfsvollen und von Wut erfüllten Worte ablesen. »Warum hast du mich umgebracht? Du bist schuld! Nur du allein! Ich verfluche dein Leben!« Natürlich wusste ich, dass ich träumte, doch jede Nacht erneut erleben zu müssen, wie meine geliebte Frau von den Menschen grausam hingerichtet und geopfert wurde, war einfach zu viel. Jede Nacht derselbe Albtraum. Jede Nacht vernichtete ich in meinen Träumen dieselben Menschen, und jede Nacht konnte ich sie nicht retten. Warum hatte ich bloß ständig diese Träume, in denen mir meine Liebsten weggenommen wurden? Bereits mein ganzes Leben lang war mir immer wieder das Glück gestohlen worden und ich hatte nie etwas dagegen unternehmen können. Die Götter verabscheuten mich, die Menschen hassten mich und die Siebenließen mich im Stich. Doch als ich eines Tages mein Glück gefunden hatte, war es mir von Odins Sippe erneut genommen worden. Ich war von meinen Schwestern getrennt, mir war die Mutter geraubt worden und mein Vater hatte mich im Stichgelassen. Nein, er hatte mich nicht im Stich gelassen. Er war genauso von den Göttern gefangen, gefoltert und gefesselt worden. Und das alles nur, weil er anders war als sie.
Die Träume folterten mich die gesamte Nacht hindurch. 

»Ist es nicht allmählich genug, Thor?«, fragte ein junger Schönling mit schwarzem Haar den Gott des Donners.
»Nein! Mach weiter! Dieses Monster muss für seine Taten auf ewig gestraft werden!« Hasserfüllt starrte der Berg von einem Mann auf das Wesen vor ihm herunter. »Das Ungetüm hat zu vielen Menschen das Leben geraubt! Ich als Beschützer der Menschheit muss etwas gegen ihn unternehmen, und du kennst doch bestimmt seine Prophezeiung!« Die Stimme des Hünen troff nur so von Hass. »Er hat einem unserer Brüder die Rechte genommen. Dafür muss er streng bestraft werden!«
»Aber ich zeige ihm schon seit Jahren denselben Traum. Irgendwann muss doch auch mal Schluss sein.«
»Morpheus! Du bist ein verweichlichter kleiner Junge! Vor dir liegt das Wesen, das die Menschen in den Rang eines Gottes erhoben haben. Töten dürfen wir das da nicht!« Mit seinem schweren Hammer zeigte Thor auf den gefesselten Gott zu seinen Füßen. Doch seine Wut ebbte einfach nicht ab. »Ich werde es bestimmt nicht akzeptieren, dass ein derart widerliches Monster durch die Gesetze der Sieben überleben wird!«, grollte der Donnergott. Gerade als seine Aura, beherrscht von Dutzenden von Blitzen, sichtbar wurde, krümmte sich der Jüngling zusammen. In den Augen von Odins Sohn war weder Mitleid noch Sorge zu lesen. Stattdessen blickte er voller Abscheu auf den Gott des Traumes herab.
Doch plötzlich begann der junge Gott zu zittern. Erst waren es nur dessen Arme, dann schlugen die Beine wild um sich. Schließlich riss Morpheus seinen Kopf hin und her, rauf und runter. Die Finsternis färbte seine strahlend blauen Augen pechschwarz, bis nur noch zwei abgrundtiefe Höhlen übrigblieben. Erst jetzt realisierte Thor, dass dies ganz gewiss nicht normal war. Sein Komplize wurde von etwas Uraltem übernommen, das keinen Widerstand duldete. Als dieses Etwas versuchte, durch die Stimme des Gottes der Träume zu sprechen, verlor der Sohn Odins die Kontrolle über den Donner.
Nach einer Weile begann die uralte Gewalt zu sprechen.  »Keinen Augenblick länger dulde ich diese niederträchtige Folter dieses Welpen!« Das begleitende Donnergrollen trieb Furcht in die Knochen des Donnergottes und des Beschützers der Menschen. Aus Morpheus' finsteren Augenhöhlen lösten sich pechschwarze Tränen. In gemächlichem Tempo floss die dickflüssige, schwarze und nach Tod riechende Masse seine hohen Wangen hinab und tropfte auf den mit Marmor gefliesten Boden. Letztendlich würde der Gott der Träume durch die Besessenheit sterben. »Gott des Donners, ich befehle dir, den Welpen von nun an nicht mehr zu belangen!« Der tiefe, alles gebietende Tonfall passte so gar nicht zu der hellen und lebenslustigen Stimme, die dem Besitzer dieses Körpers für gewöhnlich innewohnte.
»W-Was bi-bist du?«, fragte der Sohn Odins stotternd. Der ihm verbliebene Stolz erlaubte es ihm nicht, auch nur einen Schritt vor dem Besessenen zurückzuweichen.
»Du kleiner Gott bist nicht in der Position, mir Fragen zu stellen!« In die uralte Stimme mischte sich Wut, ein Quäntchen nur, das ausreichte, um den Gott des Donners am gesamten Körper erzittern zu lassen. »Ich werde dem Welpen nun eine Vision der Zukunft schenken.« Thor verstand nicht, was dieses Wesen sagte – sein Geist begriff es nicht. Angst lähmte ihn.
Als Morpheus seine geschmeidigen Hände auf den Kopf des Gefesselten legte, erbebte dessen Körper noch einmal, bevor er zu schwarzem Staub zerfiel. Der Gott der Träume löste sich einfach auf. Ein Gott starb, doch schon bald würde es einen neuen geben. 

Wolfskult LeseprobeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt