An einem verregneten Donnerstagabend treibt es mich, auf dem Heimweg durch die Straßen meiner Kleinstadt. Der Regen strömt in Fluten hinab und hinterlässt ein prasselndes Geräusch auf meinem Regenschirm. Zugleich hallt ein blechernes Geräusch von den Dächern der Autos, die links und recht am Straßenrand umherstehen. Ich lehne mich an die nächste Straßenlaterne und halte einen Moment inne, während ich mich umschaue. Dabei versinke ich in meinen Gedanken und nehme die Umgebung vorerst wie durch eine Art Schleier wahr. Zu viele Dinge gehen mir durch den Kopf. Besonders präsent ist die Frage, ob mein Vorstellungsgespräch in der zweiten Runde geglückt ist und ich schon bald bei dem renovierten Unternehmen meiner Wahl anfangen kann. Doch dann schüttelt mich ein leichter, dennoch kalter Windzug durch und meine Gedanken verblassen, während meine Umgebung aufklart. Mit geschärftem Blick sehe ich mich erneut um und inspiziere die unmittelbare Gegend. Dabei verwünsche ich mal wieder meine Augenschwäche und wische fahrig über meine tropfende Brille. Hätte ich den Regenschirm mal früher aufgespannt, dann wären jetzt nicht meine Haare vollkommen nass, sodass sie tropfen.
In der einen Richtung fährt ein schwarzes Auto durch eine Pfütze und spritzt dabei eine ältere Frau nass, die kurz darauf schimpfend die Arme hebt. Bei ihren lautstarken Beschimpfungen, die der Fahrer unmöglich wahrnehmen kann, muss ich schmunzeln. Wer läuft auch bei diesem Sauwetter so nah an der Fahrbahn, frage ich mich. Als sie plötzlich in meine Richtung schaut, da sie sich vermutlich beobachtet fühlt, sehe ich schnell weg und richte meinen Blick in die entgegengesetzte Richtung. In der anderen Richtung ist kaum jemand unterwegs. Beinahe eine gespenstische Leere, nun müsste nur noch ein Steppenläufer vorbeirollen, denke ich mir und muss schmunzeln. Doch plötzlich springt mir eine fein gekleidete Frau ins Auge, die meinen Blick vollkommen in den Bann zieht. Schnell ist die alte Frau, die schimpfend wie ein Rohrspatz noch immer leise zu vernehmen ist, vergessen.
Diese Dame ist viel interessanter, denke ich und wische mir erneut fahrig über die Brille, welche schon wieder voller Wasser ist. Der Regen ist zwar nicht mehr so stark, wie vor einigen Minuten, aber noch immer genug, um weiterhin für durchdringende Nässe zu sorgen. Umso froher bin ich über meinen schützenden Regenschirm. Doch solch einen Luxus hat die hübsche Frau einige Meter vor mir leider nicht. Ihr vorhandener Luxus drückt sich anders aus, besonders in ihrem Erscheinungsbild, aber auch in der spürbaren Eleganz, die ich aus gut 700 Metern wahrnehmen kann.
Nachdem ich meine Brille vom Wasser befreit habe, sehe ich auch klarer, was sie gerade trägt und runzle die Stirn. Die Frau in Eile trägt High Heels und dies bei dem rutschigen Kopfsteinpflaster. »Sie kann nicht von hier sein «, sage ich in die rauschende Stille. Jemand von hier würde so oder so, ob Regen oder nicht, nur ungern High Heels tragen, wenn man über das Kopfsteinpflaster muss oder es würde ihrem Outfit sonst einen zu großen Abbruch tun. Dennoch ist es unpraktisch, schließlich rutscht man schon gern einmal bei Trockenheit und mit Sneakers aus, da der Untergrund wie Schmierseife wird. Mein Blick wandert empor, kurz will ich wegsehen, damit sie meine Beobachtungen nicht merkt, doch ich kann mein Blick noch nicht von ihr abwenden, erkenne ich. Also starre ich weiter voller Begierde in ihre Richtung. Kurz komme ich mir wie ein Stalker vor und frage mich, wie mein Erscheinungsbild, so lauernd an der Laterne, wohl auf andere Menschen von außen wirken muss. Diesen Gedanken verwerfe ich jedoch schnell, schlussendlich ist fast keiner bei dem Sauwetter unterwegs.
Ihr einmal weißer Hosenanzug hat nun einen dunklen und schmutzigen Touch, wie mir auffällt und das zuvor perfekte Outfit tropft vor Nässe. Kurz bleibt sie stehen, sieht sich um und ich senke meinen Blick vorsichtshalber, doch dann läuft sie schnell geradewegs auf ein kleines Café zu, was sich unscheinbar zwischen Buchladen und Drogerie versteckt. Bisher war mir das kleine Café nicht wirklich aufgefallen, doch jetzt wüsste ich gern, was auf der Karte steht und wie es von innen aussieht. Kurz bevor sie das Café jedoch erreicht und fluchtartig den Regen verlassen kann, wird sie unsanft von einem Mann angerempelt, der sie durch seinen tief gehaltenen Schirm übersieht. Ich verenge meine Augen zu Schlitzen, ist doch alles in dieser Entfernung schwer zu erkennen. Stattdessen spiele ich mit dem Gedanken mich auch in Richtung Café zu bewegen und die Unbekannte dort wiederzusehen. Schließlich habe ich ja doch nichts zu tun und der Spaziergang nach Hause dauert wiederum so lange, dass ich durch die Bewegung, trotz Regenschirm, komplett durchnässt wäre und sicherlich schon Morgen krank. Ich stoße mich daraufhin lässig von der Laterne ab und will mich gerade in Bewegung setzen, als die Frau sich umdreht und ich zu Eis gefriere sowie kurz darauf wieder an der Laterne lehne.
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Die Ruhe vor dem Sturm
RomanceEine alltägliche Begegnung, die noch mehrmaliges Nachdenken und Revue-passieren aufwirft. Eine alltägliche Begegnung zwischen Angestellter und ihrer Chefin, oder ist da doch mehr? Kann da mehr entstehen oder bleibt es bei einer recht intimen Berüh...