Keuchend blieb er am Wegrand stehen, umetwas zu trinken. Er musste jetzt schon über eine Meile gelaufensein. Jedenfalls kam es ihm so vor, aber durch die Berge was dasschwer abzuschätzen. Sie hatten den Weg zusätzlich beschwerlichgemacht. Er konnte sich nicht vorstellen, wie jemand so weitabgelegen wohnen konnte. Das Waisenhaus, in dem er als Kind gelebthatte, hatte mitten in Dallas gelegen und er war danach immer in derStadt geblieben. Vielleicht hätte er das auch jetzt besser getan.
Wieder starrte er auf das Foto, das mitRußflecken übersät und schon sehr zerknittert war. Johnny führtees schon seit seiner frühesten Kindheit mit sich. Es war dasEinzige, was ihm von seiner Familie geblieben war, nachdem er sein zuHause und seine Eltern vor zwanzig Jahren bei dem großen Brandverloren hatte. Johnny war damals noch so klein gewesen, dass er sichgar nicht mehr daran erinnerte. Und doch musste es seine Familiesein, die ihm von dem Foto entgegenblickte. Sie alle waren gekleidetwie in einem Wildwestfilm.
Fünf Gesichter blickten leicht schrägan der Kamera vorbei. Zwei Frauen im Vordergrund, eine älter, diestreng aussah, als sei sie die Autorität der Familie und eine jungund hübsch in ihrem gelben Kleid, das musste seine Mutter gewesensein, bevor er auf die Welt gekommen war. Dahinter standen dreiMänner mit schwarzem Haar. Johnny wusste nicht, welcher davon seinVater war.
Das auffälligste an ihnen waren dieblauen Knöpfe, die die Westernkleidung des am weitesten linksstehenden Mannes zierten. Diesen Mann hatte er ausfindig machenkönnen. Ein Wunder, dass es so lange gedauert hatte. Johnny hatteimmer gedacht, dass all seine Verwandten in dem Feuer gestorbenwären. Doch dann hatte er diesen Mann zufällig in einer ödenSendung im Fernsehen gesehen, die offenbar das Landlebendokumentieren sollte. Johnny hatte so oft auf sein Foto gestarrt,dass er den Mann sofort wiedererkannt hatte.
Bald darauf hatte er herausgefunden,dass er Mr Grant hieß und irgendwo hier in den Bergen leben musste.Johnny war herausgefahren, um ihn kennenzulernen, obwohl er nicht sorecht wusste, was er eigentlich erwartet hatte. Und jetzt irrte erseit Stunden in den Bergewegen hier herum und hatte die Stelle immernoch nicht gefunden, an der sein Haus stand.
Johnny seufzte und wollte geradeweitergehen, als plötzlich eine Eule aus dem Gebüsch gehopst kam.Johnny rieb sich die Augen und fragte sich langsam, ob er zu lange inder Sonne gelaufen war. Eine Eule? Am hellichten Tag?
Doch sie musste real sein. Denn als sieherbeihopste und ihm frech in die Wade zwickte, fühlte sich derSchmerz sehr echt an. „Autsch!", rief Johnny verärgert. „Wassoll das denn?", fuhr er die Eule an und wich vor ihr zurück. DieEule schuhute, als wollte sie antworten und hopste hinterher. Johnnywurde das langsam unheimlich. Vorsichtig wich er zurück. „Waswillst du?", fragte er mit zittriger Stimme ohne eine Antwort zuerwarten. Die Eule sah ihn nur mit großen Augen an und streckteeinen Flügel aus, der offensichtlich gebrochen war. „Du...dumöchtest, dass ich dir helfe?", fragte Johnny irritiert und machteeinen Schritt auf die Eule zu. Er wertete es als gutes Zeichen, dassdie Eule nicht wieder versuchte, ihn zu beißen. „Also gut.",sagte Johnny. „Aber ich weiß nicht, wie ich dir helfen kann."
Da ließ die Eule etwas aus ihremSchnabel fallen. Einen Knopf, so blau wie die Knöpfe des Mannes aufJohnnys Foto. Behutsam hob er ihn auf und sah mit wachsendemErstaunen wie das kluge und mutige Tier seinen heilen Flügel in eineRichtung hielt, als wollte es ihm den Weg weisen. „Wohnt Mr Grantin dieser Richtung?", fragte Johnny und deutete in die Richtung,die die Eule ihm gezeigt hatte. „Und soll ich dich zu ihmbringen?", fragte er und beugte sich zur Eule herab. Diese schuhutezufrieden und sprang auf seinen Arm, als ob sie „Ja" sagenwollte. „Na dann mal los!", sagte Johnny grinsend und ging nunzielstrebig in Richtung der Hütte des Mannes, der seine Familiegekannt haben musste.
Hallo zusammen,
diese Geschichte war ursprünglich als One Shot gedacht. Trotzdem behalte ich mir vor, dass eventuell weitere Kapitel in "das Foto" erscheinen könnten.
Viele Grüße
Rivinia
DU LIEST GERADE
Das Foto
Short StoryEine Kurzgeschichte über ein altes Foto, das Johnny aus Dallas hinaus in die Berge von Texas führt.