IV.

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Scott - 17:10 Uhr

Der Himmel war grau. Zum Glück trug ich meine Anzugjacke, sonst würde ich hier draußen halb erfrieren, während ich auf Coralie wartete. Sie verspätete sich, wie immer.

Zehn Minuten lang liefen ehemalige Schüler der Shield Valley High School an mir vorbei, manchen nickte ich zu. Aber meine Schwester und ihr Mann ließen weiterhin auf sich warten.

Ob Amber heute wirklich auftauchen würde? Seit ich die Einladung zu dem Ehemaligentreffen in meiner Post gefunden hatte, konnte ich nicht mehr richtig schlafen. Zwanzig verdammte Jahre hatte ich es geschafft, diesen elenden Nachmittag zu verdrängen. Aber jetzt war alles wieder über mir eingebrochen. Ich bekam kein Auge mehr zu.

»Na, Brüderchen, träumst du wieder?«

Die Stimme meiner Schwester ließ mich herumfahren. Sie hatte sich von hinten an mich herangeschlichen und grinste mich breit an. »Es ist überall besser als erneut in dieser Hölle zu landen«, brummte ich.

Coralie schlenderte auf mich zu und hakte sich unter. »Glaub mir, die wahre Hölle liegt ganz woanders, die willst du nicht erleben.«

Ich grummelte vor mich hin, schielte zu ihr herüber und bewunderte kurz ihr Kleid. »Du siehst gut aus. Wo bleibt dein Mann?«

»Danke schön.« Sie grinste breit. »Frederick hat noch einen Termin.«

Zusammen betraten wir die viel zu stickige Turnhalle. Da es hier dunkler als draußen war, brauchte ich ein paar Sekunden, um mich an das Licht zu gewöhnen. Als sich dann mein Blick klärte, stockte mir der Atem. Ein mannshohes Gemälde des verstorbenen Schulleiters hing mitten über der Bühne, nahm gefühlt den ganzen Raum ein und schnürte mir die Brust zu. Auch Coralie versteifte sich neben mir.

»Ich muss dir etwas erzählen«, platzte es aus mir heraus. Überrascht von mir selbst blieb ich stehen, direkt vor einem kleinen Stehtisch.

Coralie sah mich mit einem besorgten Ausdruck an. »Was ist los? Geht es um deine Ex?«

Ich schüttelte vehement den Kopf. »Nein, um damals.« Wie einfach mir doch die Worte über die Lippen kamen, wenn man bedachte, dass ich seit über zwanzig Jahren mit diesem Geheimnis herumlief.

»Was ist los?«

Ich atmete tief ein, das würde eine schwere Nummer werden. Würde ich die richtigen Worte finden? »Damals, als McCarter gestorben ist, war ich gar nicht die ganze Zeit mit Amber unterwegs gewesen. Also schon, aber ...« Ich konnte es nicht, konnte die Worte nicht aussprechen. Aber genauso wenig konnte ich noch länger mit dem Schweigen leben. »Ich habe es getan. Ich habe ihn überfahren.«

Coralies Finger in meinen Händen versteiften sich. Ich sah in ihr Gesicht und entdeckte blanke Wut. »Wieso hast du es mir nie gesagt?«

»Das ist das Erste, was du mich fragst?« Ich lachte hysterisch auf.

Sie schluckte, zögerte.

Mein Herz schmerzte, sicher würde sie sich jetzt von mir abwenden, genau wie all die anderen. Amber, Tracy und jetzt auch Coralie.

»Dieser Mistkerl hatte es verdient zu sterben.«

Ich riss die Augen auf und musste mehrmals blinzeln, um sicherzugehen, dass wirklich meine Schwester vor mir stand.

»Er war kein guter Mensch. Ich -« Sie zog ihre Hände zurück, richtete sich auf und strich sich die Haare zurück. »Ich war damals schwanger von ihm.«

Alles um mich herum verstummte, meine Schwester rückte in den Fokus und mein Puls stieg. »Was?«

»Es war an einem Nachmittag, als ich nachsitzen musste. Wir waren allein ...« Tränen schossen in Coralies Augen, die sie sich schnell wegwischte. Sie sah sich um, rang um Fassung. »Du hast das Richtige getan.« Kaum sagte sie das, traf Frederick ein und küsste sie auf die Wange.

»Na? Worüber redet ihr beiden gerade?«

Coralie lächelte ihn falsch an und flüsterte etwas in sein Ohr.

Meine Gedanken wirbelten herum: McCarter hatte meine Schwester vergewaltigt und sie war daraufhin schwanger geworden? Ich stürzte zur Bar, bestellte direkt zwei Shots, die ich kurz hintereinander runter stürzte. Danach orderte ich ein Bier, das mir hoffentlich beim Nachdenken half.

Verdammt, hatte Amber davon gewusst? Hatte sie deshalb ins Lenkrad gegriffen? Ich war völlig verwirrt, rettungslos verloren. Wie sollte ich mit der doppelten Schuld weiterleben?


Mein Beitrag zum Ideenzauber 2023Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt