Sie betrachtete das Blut, das aus ihrem Finger quoll, mit einer Mischung aus Verwunderung und Genugtuung. Natürlich hatte sie bemerkt, wie sie sich in den Finger geschnitten hatte, wie das scharfe Messer vom Brot abgerutscht und Richtung Hand geglitten war, und auch, wie die Klinge durch die Haut gedrungen war, die Fasern durchtrennt und Nervenbahnen abgeschnitten hatte. Wie der stechende Schmerz erst ein paar Sekunden später eingesetzt hatte, intensiv, pochend.
Und dennoch wunderte sie sich. Sie wunderte sich über die Farbe ihres Blutes und die Intensität des Gefühls. Sie wunderte sich über den dicken, sich auftürmenden Tropfen, den die Oberflächenspannung irgendwann nicht mehr halten konnte und der ihr den Finger hinunterrann, sich in der Kerbe zwischen Zeige- und Mittelfinger sammelte und sich dort in den kleinen Rillen ihrer Haut verzweigte wie an einem Flussdelta. Genugtuung empfand sie, weil es ihr recht geschah. Es war wie eine reinigende Ohrfeige, wie eine wohlverdiente Züchtigung. Sie konnte sich an die brennenden Schläge ihrer Mutter erinnern, die schmerzten, aber auch Gerechtigkeit wiederherstellten. Wenn der Schmerz abklang, war die Welt wieder im Lot. Nur manchmal brannten die Ohrfeigen tagelang. Wenn sie ungerecht geschahen. Wenn es nur die Wut der Mutter war, nicht ihre eigene Schuld. Dann brannten die Ohrfeigen ewig und ein kleines Stück des Bandes zwischen ihnen beiden war zerrissen. Sie konnte sich nur zu gut daran erinnern.
Und so hatte sie sich geschworen, ihre Tochter niemals zu schlagen. Sie würden alles besprechen, hatte sie gedacht, alles würde sich mit Worten lösen lassen. Sie wollte nicht die strafende, die wütende Mutter sein. Sie wollte ihre Tochter beschützen. Dass diese Dinge so nah beieinander lagen, Wut und Liebe, Strafe und Sorge, das hatte sie ja nicht geahnt.
Sie hatte heute ihren Schwur gebrochen. Hatte ihre Tochter geschlagen. Darum geschah es ihr ganz recht, dass sie sich in den Finger geschnitten hatte. Vielleicht hatte sie es sogar absichtlich getan. Wie kam sie auch auf die Idee, mitten in der Nacht Brot zu schneiden. Im Dunkeln. Es drang nur das diesige Mondlicht durch die kleinen Fenster, reflektiert von der dicken Schneedecke, die Wald und Wiese unter sich begraben hatte. Es geschah ihr ganz recht.
Marie seufzte und fasste mit der linken Hand den Zeigefinger der rechten. Drückte noch ein wenig, aber es quoll kaum mehr Blut hervor. Sie hatte nicht besonders tief geschnitten. Das war beinahe enttäuschend, aber sie wollte auch nicht übertreiben. Es hatte ja keine Amputation werden sollen. Sie erinnerte sich plötzlich an eine Patientin in ihrer Ausbildung, die sich mit ihrem Ehering den Finger amputiert hatte. War damit in einem Zaun hängen geblieben. Was für eine seltsame Sache, dachte sie sich, sie hatte damals nicht geahnt, wie viel Symbolkraft in ihr lag.
Vier Jahre später hatte Marie sich selbst einen Ring überstülpen lassen. Stefan schnarchte im Obergeschoss. Den Ring trug sie mittlerweile nur noch selten und wenn, dann an einer Kette um den Hals.
Marie trat ans Fenster und betrachtete den immer noch rieselnden Schnee. Weiße, winzige Flocken, die so langsam sanken, dass man beinahe nicht erkennen konnte, ob sie fielen oder stiegen. Vielleicht taten sie beides. Vielleicht schüttelte jemand diese Schneekugel namens Erde und hielt sie auf dem Kopf.
Es war der erste Schnee, der mehrere Wochen liegen blieb, seit Jahren. Hohe Dämme hatten sich rechts und links der Straßen getürmt, als sie hierhergefahren waren, nur die Spitzen der Begrenzungspfosten hatten herausgelugt, wenn überhaupt. Der ganze Wald ächzte und wimmerte unter den Schneemassen. Was hatten sie sich dabei gedacht, sich ausgerechnet jetzt in diesem gottverlassenen Haus mitten im Wald zu treffen. Am Nachmittag war der Strom ausgefallen. Seither saßen sie im Dunkeln und warteten, dass es vorbeiging. Dass endlich Sonntag wäre und alle wieder nach Hause fahren könnten. Schön war's, das machen wir bald wieder, würden sie sagen und dann doch wieder zwanzig Jahre verstreichen lassen. Oder ein ganzes Leben.
DU LIEST GERADE
Ein Wiedersehen
Short StoryEs ist Silvester, draußen fällt Schnee. In einer einsamen Hütte treffen sich alte Freunde, um das neue Jahr zu begrüßen. Doch mit dem neuen Jahr erwachen alte Erinnerungen, die so schmerzhaft sind, dass sie nach Rache verlangen. Marie entschließt si...