Marian war unglaublich erleichtert, Robin zu sehen. Auch wenn sie es nie zugegeben und bis zum letzten Atemzug mit Händen und Füßen gegen die rauen Banditen ankämpft hätte - sie hatte furchtbare Angst gehabt. Selbst wenn sie immer an das Gute in den Menschen glaubte, so konnte Zorn die Menschen zu unglaublich schrecklichen Dingen bewegen.
Genauso wenig hätte Robin zugegeben, dass sich bis zu dem Augenblick, in dem Marian wieder in seinen Armen lag, ein grausamer harter Knoten in seinem Magen befunden hatte. Auch deshalb drückte er sie für den Bruchteil einer Sekunde fester an sich und atmete tief ein, um sein aufgewühltes Gemüt zu beruhigen.
„Alles in Ordnung, Marian? Geht es dir gut?", Robin raunte er und es lag ehrliche Sorge in seinen Worten. Marian nickte langsam und löste sich von dem Dieb, denn diese Schlacht war noch nicht geschlagen.
„Ha, da fällt sie dir um den Hals, als ob du ein Ritter wärst, der sie von Räubern befreien wollte. Aber das ändert rein gar nichts. Ich habe gewonnen, wir haben die Lady." Scarlet verschränkte die Arme vor der Brust und reckte das Kinn, als hätte er soeben dem König die Kronjuwelen gestohlen. „Das Weib bekommt der Sheriff wieder. Vielleicht für ein Lösegeld, das uns den Winter leichter macht und dem feinen Lord ein Loch in seine zu vollen Taschen brennt!"
„Ihr habt nicht gewonnen, das habt ihr bereits zugegeben, Will", Robins Stimme schoss scharf, während er Marian hinter sich schob. Als müsste er sie vor Scarlet beschützen. „Wiederholt, was ihr vorhin gesagt habt, Will Scarlet, König dieser Bande von kopflosen Hühnern: Habt ihr das Amulett?" Robins Augen wurden schmaler. „Denn DAS solltet ihr stehlen! Nicht die Frau!"
Wills Fäuste verkrampften sich. Er hasste diese verfluchte Arroganz, welche Hood wie ein Banner ständig zur Schau trug. Er war nicht mehr als ein gefallener Adliger. Ein Niemand, wie alle anderen hier. Trotzdem benahm er sich auch jetzt noch so überheblich, als wäre er etwas Besseres! „Du hast eine ganz schön große Klappe für einen Verlierer!", zischte Will und packte Robin am Kragen.
„Ich kann es mir auch leisten!", meinte Robin und hob die Hand. Im Licht der Sonne, die ihre goldenen Strahlen durch das Blätterdach warf, schimmerte das Geschmeide in Robin Hoods Händen. „Denn ICH habe das Amulett."
Will Scarlet starrte auf das Schmuckstück in den Händen des anderen Diebes.
„Wie?" Mehr brachte er einfach nicht heraus.
Marian lächelte zufrieden und auch ein klein wenig stolz. Sie hatte Robin nicht geholfen. Jedenfalls nicht direkt. Sie hätte ihm das Schmuckstück auch einfach geben können. Aber auch wenn der Plan von ihr war, so hatte Robin die Kette ganz allein gestohlen. Und wenn sie ehrlich war, hatte sie es selbst nicht einmal bemerkt.
Robin grinste und drehte sich auf dem Absatz, damit er hinter die Lady treten und ihr das Schmuckstück wieder um den Hals legen konnte. „Ich habe meine Gelegenheit genutzt", erklärte Robin lediglich. Er verschwieg dabei, wie schwierig es gewesen war, Marian das Schmuckstück vom Hals zu stehlen, während Wills Männer sie von ihm fortgezerrt und ihn dabei auch noch an eine Wand gepinnt hatten. Aber er war Bogenschütze, ein Tunichtgut seit Kindertagen, ein Dieb und besaß äußerst geschickte Finger. Seine Arroganz war nicht nur heiße Luft. „Ich schätze also, ich habe gewonnen, Scarlet."
Robin trat vor den anderen Banditen, dessen geballte Fäuste zitterten. Robin ahnte nur ansatzweise, wie schwer es sein musste, sich einzugestehen, dass ausgerechnet ein Adliger besser gewesen war. Verdammt, er konnte den Kerl nicht leiden. Er war hochmütig und selbstgefällig und erinnerte ihn zu sehr an sich selbst.
Robins Blick traf auf den von Marian. In ihren Augen sah er so viel auf einmal. Vertrauen, welches er sich nicht erklären konnte, neben einer Hoffnung, von der er sich nicht sicher war, ob er sie tragen und vor allem, sie sich verdienen konnte. Robin wollte anfangs nur die Rebellion unterstützen. Aber dank ihrem Blick konnte er mehr sein, als nur ein Dieb. Mehr als ein Rebell.
Sachte nickte sie ihm zu und legte nur kurz die Hand an seinen Arm. Er vertraute nun ihrem Urteil, ihren Ideen und Plänen. Selbst wenn er sich dafür in Gefahr bringen musste.
Robin atmete tief durch und wandte sich wieder Scarlet und den anderen Banditen zu.
„Hört zu", setzte er neu an, „Ich mag einmal ein Adliger gewesen sein, aber das ist lange her und ich habe meinen Titel für meine Überzeugung aufgegeben. Für mich ist das hier kein Spiel", Robin sah mit einer Ernsthaftigkeit in die Runde, die man ihm kaum zugetraut hätte.
„Ich will nicht euer Anführer werden, um mich zu brüsten. Ich beabsichtige, euch anzuführen, weil ihr es braucht und es euch verdient habt. Ich werde euch helfen. Da draußen, weit entfernt in London, sitzt ein Mann auf einem Thron, der nicht ihm gehört. Er schröpft unser Land, unsere Brüder und Schwestern. Und bei Gott, wir sind nicht die Einzigen, denen es reicht. Aber all diese Männer und Frauen, all diese Bürger, Mägde, Bauern und ja, auch Adligen haben nicht den Mut, sich zu erheben. Denn sie haben zu viel zu verlieren. Uns aber hat die Krone, ja auch der Sheriff in die Ecke gedrängt. Sie dachten, wir würden den Schwanz einziehen und wie geschlagene Hunde ihren neuen Herren akzeptieren. Aber wir sind Wölfe, verdammt. Wenn wir nichts mehr haben, dass uns zurückhält, dann beißen wir nach der Hand, die uns schlägt. Hier draußen in den Wäldern von Sherwood gibt es kein Arm und kein Reich, hier gibt es nur eine Bande von Waffenbrüdern. Arbeitet mit mir zusammen, Scarlet. Und wir können dafür sorgen, dass diese Bande mehr erreichen kann, als nur ein paar Strauchdiebe zu sein. Ich lehre euch das Kämpfen und ihr schenkt mir dafür eure Treue. Wir werden die ersten sein, die den Menschen von England zeigen, dass es die Mühe wert ist, für eine bessere Zukunft zu kämpfen!"
Robin streckte die Hand aus, um sie Will zum Frieden zu reichen.
Der Mann presste die Lippen fest zusammen. Murmeln und Raunen ging durch die weiteren Männer der Bande. Dann tat der arrogante Strauchdieb etwas, das weder Marian noch Robin ihm zugetraut hätten: Scarlet ließ den Blick schweifen und suchte in den Gesichtern nach Zustimmung oder Ablehnung. Auch wenn er so tat, als wäre er der König dieser Bande, so entschied er scheinbar nicht einfach über ihre Köpfe hinweg.
Nach einer gefühlten Ewigkeit, in der Marian und weitere Zeugen dieses Augenblicks die Luft angehalten hatte, streckte er schließlich die Hand aus und reichte sie Robin. Ein kurzer Jubel ging durch die Meute.
„Denk aber nicht, dass wir dir die Stiefel putzen, Hood", meinte er und lächelte schwach.
Da lachte Robin, löste die grauenhafte Anspannung und klopfte Will auf die Schulter. Es war ein seltsamer, aber bedeutsamer Moment.
Da ertönte ein Keuchen. Verwundert wandten Marian und Will den Kopf.
Sie sahen gerade noch, wie der Bandit, der Marian bewacht hatte, auf die Knie und leblos in den Dreck sank. Blut sprudelte wie eine frische Quelle aus der Wunde in seinem Rücken. Es tränkte das grüne Hemd in dunkles Rot. Der Schaft eines Pfeils ragte daraus hervor wie ein Pfeiler in lockerer Erde.
Dann erhob sich eine Stimme gleich einem finsteren Sturmgewitter und legte sich Unheil verkündend über das Lager:
„Im Namen der Krone Englands, stelle ich euch alle hiermit unter Arrest!"
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Die Königin von Pfeil & Bogen
Historical Fiction[WATTYS 2023-WINNER/Fesselndste Welt] ** Marian, stehlende Adelstochter mit großem Herzen trifft auf Robin Hood, verwegener Dieb mit gewaltigem Ego. Werden sie alten Schmerz, Vorurteile und schließlich den grausamen Sheriff von Nottingham überwinden...