Kapitel 1

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"Elisa, reiß dich zusammen! Wir haben keine Zeit für diese Scheiße", sagte meine Mutter in einem genervten Tonfall. Ich saß einfach nur dort und zitterte. Meine Mutter zwang mich eigentlich, ihr in die Augen zu schauen, aber ich konnte es nicht. Verdammt, warum bekam ich es nicht hin?

-"Wir haben keine Zeit für den Mist, verdammt! Hör auf zu zittern!". Meine Mutter wurde immer lauter. Ich hielt mich an dem Anschnallgurt fest, aber er gab mir keine Sicherheit. Mein Vater nickte zustimmend und sah mich durch den Rückspiegel mit leerem Blick an, als ob er bereits seine gesamte Geduld mit mir verloren hätte. Aber eigentlich hatte er niemals eine wirkliche Meinung - er redete alles so nach, wie meine Mutter es sagte

Mein Herzschlag beschleunigte sich, augenblicklich wurden meine Hände feucht. Es begann wieder einmal. Und ich hasste es - ich hasste mich selbst dafür. Mein Atem wurde immer flacher, als ich mich bemühte, mdind Angst in den Griff zu bekommen. Ich hielt mich weiterhin am Anschnallgurt fest. Aber wieder hilft es mir nicht. Verkrampft rolle ich mich in meinem Sitz zusammen und umarme meine Knie. Tränen drohen, aus meinen Augen zu fließen.
"I-ich kann nicht", flüsterte ich leise. Mein Vater seufzte genervt.

Einige Sekunden später stieß auch meine Mutter einen frustrierten Seufzer aus.
-"Du machst uns das Leben so schwer, Elisa. Immer diese Dramen, keinen einzigen normalen Tag können wir verbringen... Du bist eine Enttäuschung!." Die Worte meiner Mutter schnitten durch den Raum des Autos. Ich kniff meine Augen noch mehr zusammen, damit meine Tränen bloß nicht fließen konnten. Dann würden mir so viele Dinge drohen.

Und dann entwich mir ein leises Wimmern. Sofort hielt ich mir meinen Mund zu.
-"Meine Güte", schimpfte meine Mutter. Ich hatte etwas falsch gemacht. Mein großer Bruder, welcher links neben mir saß, gab ein gedämpftes Geräusch von sich. Er konnte meistens nicht so wirklich sprechen, weil er irgendeine Lähmung hatte. Ich wusste gar nicht, was für eine, weil niemand es mir sagen wollte. Aber er konnte sich nicht äußern und er konnte mir nicht helfen. Und er würde es sicherlich auch nicht tun, wenn er nicht behindert wäre. Ich verdiente keine Hilfe.

Ein paar Minuten vergingen. Ich musste mir weitere wimmernde Geräusche verkneifen, schließlich sah meine Mutter mich schon die ganze Zeit über enttäuscht an. Dann drehte sie sich eher meinem Bruder zu und legte eine Hand auf sein Knie.
-"Keine Angst, Julian... Wir sorgen dafür, dass sie aufhört", flüsterte sie. In der freundlichsten Stimme, die man sich vorstellen konnte. Mein Atem beschleunigte sich noch mehr. Dann wimmerte ich erneut. Ich konnte es gar nicht kontrollieren. Meine Mutter warf sofort einen vernichtenden Blick auf mich, bevor sie sich zu ihrem Mann wandte.

-"Ich kann diese Missgeburt nicht mehr ertragen. Lass sie hier raus!", schnaubte sie. Ihr Blick war plötzlich so finster, dass ich mich noch weiter in mich zusammenzog. "Nein! Was?! Bitte nicht!", wimmerte ich, aber meine Mutter schlug mir mit ihrer flachen Hand auf mein Knie und zischte: "Reiß dich zusammen! Wenn du jetzt weiter heulst, darfst du den ganzen Weg nach Hause alleine laufen!". Ich biss mir auf die Unterlippe und nickte. Währenddessen gab Julian wieder ein undeutliches Geräusch von sich.

-"Meine Güte, Thomas", sprach meine Mutter meinen Vater, der das Auto fuhr, an. "Fahr' rechts ran und lass diese Missgeburt raus! Sie verdient es nicht, weiter hier zu sein! Sie verdirbt uns nicht noch einmal den Urlaub!".
Mein Zittern intensivierte sich. Aber ich traute mich nicht nochmal, irgendein Geräusch rauszulassen. Ich biss mir auf meine Lippen, sodass sie bluteten. Ich wünschte, es wäre nur ein Albtraum gewesen. Aber es war real - ich spürte die Schmerzen und ich spürte, wie mein Herz stolperte.

Mein Vater steuerte das Auto in Richtung Straßenrand, das merkte ich. Julian schien etwas sagen zu wollen, schließlich kamen Geräusche aus seinem Mund, aber sie waren undeutlich. Ich bildete mir ein, dass ich meinen Namen hörte, aber schon im nächsten Augenblick verstummte Julian, denn meine Mutter legte ihre Hand auf sein wackelndes Bein und meinte mit ruhiger Stimme: "Keine Angst, Julian... Sie ist gleich weg".

Das Auto hielt schließlich an, meine Mutter stieg aus, öffnete meine Tür, löste meinen Anschnallgurt und zog mich dann an meinem Arm nach draußen. Ich landete unsanft auf meinem Rücken in dem nassen, kalten Gras.
-"Nein, bitte!", flehte ich, während die Panik mich übermannte. Meine Mutter warf noch mein Handy hinterher, welches prompt zersplitterte. Dann stieg sie wieder ein und schloss die Tür.

Meine Augen füllten sich erneut mit Tränen, als sie wegfuhren. Alles verlief in Zeitlupe. Und ich blieb dort auf dem eiskalten Gras liegen. Mein Rücken schmerzte, mir war sofort kalt, schließlich trug ich nur einen Pullover aus einem dünnen Stoff und eine löchrige Jeans. Das Gras, in welchem ich lag, war nass. Alles fühlte sich ekelhaft an. Aber ich musste es wohl verdient haben, hier zu liegen, schließlich konnte ich mich nicht einmal normal verhalten. Und deswegen verdiente ich es nun, zu sterben.

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