16. Nils - Wettschulden

247 31 26
                                    


Eigentlich, ja eigentlich wollte ich mich ihm nicht verschließen und doch tat ich es ganz automatisch. Mein ganzer Körper, mein ganzes Inneres gingen auf Abstand. Machte zu. Und je mehr ich es tat, desto mehr suchte er meine Nähe. Aber wo für?

Natürlich konnte ich es nicht leugnen, auch mir hatte der Kuss gefallen. Hatte mir geholfen, dass ich da draußen im Watt nicht gänzlich zusammen brach, aber hier und jetzt bei Tageslicht betrachtet? War es sinnlos. Weder eine Freundschaft aufzubauen, noch auf mehr zu hoffen. Ich igelte mich nicht umsonst seit einem Jahr ein. Ging auf Abstand und stieß alles und jeden von mir.

Allein sein war okay. Allein sein tat nicht weh. Man gewöhnte sich sogar sehr schnell daran. Außerdem hatte ich Var. Eine sehr traurige Var, die Mathias zu vermissen schien, weil ich sie nicht mehr in die Bäckerei mitbrachte. Immerhin war sie der perfekte Grund, mich nach getaner Arbeit zu verabschieden und zu verschwinden. Immerhin war es auch für sie das Beste, wenn sie ihn vergaß. Er würde eh weggehen. In drei, vier Wochen, wenn Betty wieder auf dem Damm war, würde er seine Sachen packen und verschwinden. Und wir beide? Wir würden nur mehr einsamer zurückbleiben, weil wir den Fehler begangen hatten, ihn in unser Leben zu lassen.

„Wann soll ich kommen?", riss er mich aus den Gedanken, lehnte sich mit dem Rücken an meine Arbeitsplatte und verschränkte die Arme vor der Brust, während er mich von der Seite musterte. Sichtlich irritiert blickte ich zu ihm rüber, begegnete seinem Blick, nur um augenblicklich wegzusehen. Auf eine absurde Art und Weise war es leichter gewesen, seine Augen für die von Jan zu halten, statt für seine eigenen.

„Was meinst du?", brummte ich und konzentrierte mich wieder auf die Brötchen, die ich gerade formte. Es waren die Letzten, dann konnte ich endlich wieder nach Hause verschwinden.

„Na unser Date. Morgen ist Montag, schon vergessen? Wann soll ich da sein?", wollte er lapidar wissen und dennoch klang etwas Herausforderndes in seiner Stimme mit.
„Ich bring' es dir Dienstag mit hier her, dann brauchst du dir keine Umstände machen", erwiderte ich wie aus der Pistole geschossen, denn unsere Dessertdates hatte ich ganz gewiss nicht vergessen. Stattdessen spukten sie seit Tagen in meinem Hirn. Dreimal und dann würde er verschwinden. „Dann brauchst du dir keinerlei Gedanken um Var zu machen", schickte ich ganz schnell hinterher, weil mir nicht entgangen war, wie er sich neben mir versteifte.

Schweigen breitete sich zwischen uns aus und ausnahmsweise ging es von seiner Seite aus. Dann, ich war gerade fertig mit dem Teig geworden, stieß er sich von der Platte ab und lief los. „Weißt du was, vergiss es einfach", murmelte er noch niedergeschlagen und wollte grade zur Tür raus.

Oh verdammt auch! Meine Gedanken überschlugen sich regelrecht. Ich wollte nicht, dass er zu mir kam. Nicht mit ihm allein sein. Ihm nicht noch näher kommen. Aber am allerwenigsten wollte ich, dass es ihm schlecht ging. Dass er traurig war. Enttäuscht. Von mir ...

„Neunzehn Uhr würde passen, aber bring nichts mit Curry mit, das mag ich nämlich nicht", und bevor er noch etwas sagen konnte, verschwand ich. Lief in die entgegengesetzte Richtung ins Bad, nur um weg von ihm zu kommen. Schloss ab und lehnte mich mit wild schlagendem Herz gegen die Tür.

Ich hätte ihn einfach nur gehen lassen müssen, dann wäre alles vorbei gewesen. Mit Sicherheit hätte er nicht erneut meine Nähe aufgesucht, stattdessen tat ich was? Ich lud ihn ein? Zu mir? Ein Laut des Frustes entschlüpfte meinen Lippen. Ich stieß mich ab von der Tür und trat ans Waschbecken, um mir die Hände zu waschen. Mied es dabei tunlichst den Blick zu heben und in den Spiegel zu schauen. Konnte mir selbst nicht in die Augen sehen. Ich wollte und wollte es nicht, Zeit mit ihm zu verbringen. Und auch wenn ich es vorhin noch darauf geschoben hatte, dass ich ihn nicht traurig sehen wollte, so war es doch eher so, dass ich es war, den ich nicht mehr traurig ertrug. Gott, ich vermisste ihn jetzt schon. Vermisste seine Nähe, seine Art und das nur, weil ich so ein Idiot war. Es würde doch so und so weh tun. Ganz gleich, wann wir es beendeten. Wann unsere Wege sich endgültig trennten. Ob heute, morgen, oder eben in einem Monat. Machte es überhaupt noch einen Unterschied? Oder war dieser Gedanke nur eine Ausrede? Ein Freifahrtsein?

Stöhnend schloss ich die Augen und atmete tief durch. Hielt mich am Waschbecken fest. Fühlte das kalte, glatte Material unter meinen Fingern und versuchte mich wieder zu beruhigen. Eigentlich war es doch egal. Alles war egal.
Was war nur mit mir passiert? Irgendwie konnte ich mich selbst nicht mehr leiden. Früher war ich auch nicht so. Ja, früher. Aber früher war eben auch alles andere anders. Kopfschüttelnd griff ich nach dem Handtuch, trocknete die Hände ab und machte mich auf den Weg zu Betty, um mich zu verabschieden. Sollte ich ohne gehen, würde die Gute es mir nie und nimmer verzeihen. Und ich mir auch nicht, immerhin hatte sie im letzten halben Jahr so viel für mich getan. Hatte mich akzeptiert, wie ich war. War mit ihrer typischen Art ganz normal zu mir. Hatte nie gefragt, wie es mir mit allem ging. Nie gefragt, ob meine Eltern wieder zurückkommen würden. Und ob ich allein hierbleiben wollen würde. Alles Fragen, die mir fast täglich begegneten. Stattdessen hatte sie mich einfach so behandelt, als wäre nie etwas gewesen. Als wäre mein Leben vor einem Jahr nicht in zwei gebrochen.

Leise klopfte ich an ihre Schlafzimmertür, nach dem mich Mila hereingebeten hatte, und betrat nach einem leisen „herein" ihr Zimmer. Es war klein, wie alles in ihrem Häuschen, welches direkt an die Bäckerei grenzte. Lediglich ein Schrank, ein Bett und ein alter Frisiertisch mit Stuhl, wie aus längst vergangenen Tagen.

„Oh, Nils", seufzte sie überrascht und ließ sich müde auf ihr Bett sinken. Stellte die Krücken in Griffnähe und ließ ihren Kopf kreisen, um ihn zu dehnen. „Komm, setzt dich" Dabei klopfte sie auf den Platz neben sich und fuhr sich übers Gesicht. Sie schien sich über irgendwas große Sorgen zu machen. Immerhin wirkte sie zerstreut, müde und fix und fertig.

„Du schaust, dass meine beiden Liebsten nicht die Bäckerei in Brand setzen, oder?", stöhnte sie auf, als würde sie besage Szenarien vor ihrem inneren Auge sehen. „Und dass sie sich nicht gegenseitig an die Gurgel gehen! Kannst du mir das versprechen? Denn in letzter Zeit sind sie wie Hund und Katz. Mila jagt jedem Kerl hinterher, was eigentlich Matzes Aufgabe wäre, während dieser Trübsal bläst. Und seit sie ihn für diesen Kerl versetzt hatte, scheint ihr Verhältnis noch schwieriger geworden zu sein."

„Hmm ...", machte ich und nickte, denn was blieb mir schon anderes übrig? Ich wollte ihr nicht noch mehr Kopfzerbrechen bereiten. Sie sollte sich auf ihre Gesundheit konzentrieren und nicht auf das Chaos, welches sie hier zurückließ. Es würde schon schiefgehen. Unser Café war nicht allzu groß und jetzt, da die Sommerferien sich bundesweit dem Ende neigten, würde es auch hier an der Nordsee etwas ruhiger werden. Zu dritt würden wir ohne Probleme das schaffen, was wir bisher zu zweit gemeistert hatten, da hatte ich keine Zweifel. Die enge Zusammenarbeit mit Mathias machte mir da weitaus größere Sorgen, aber diesen Gedanken schob ich einfach weit bei Seite. Was die beiden Zwillinge anging, so konnte ich mich zur Not bestimmt dazwischen werfen, sollte es tatsächlich mal vonnöten sein.

„Er hat gefragt, ob ich wüsste, was dir zugestoßen ist", durchbrach sie plötzlich leise meine Gedanken und ruckartig schoss mein Blick zu ihr hinüber. „Ich habe gesagt, er soll abwarten, bis du bereit bist, mit ihm zu reden", überging sie diesen, in dem sie einfach weiter sprach. „Natürlich ist es deine Sache und ich will mich auch überhaupt nicht einmischen ...", dabei sah sie auf und lächelte schelmisch, auf ihre typische Oma Betty Art, weil sie wusste, dass sie mit dieser Einleitung genau das tat. „... aber lass dir von einer alten Frau einen Rat geben. Wenn du nicht willst, dass er es von jemand anderem aus dem Dorf erfährt, du weißt ja, wie manche von ihnen sind, dann solltest du es vielleicht selbst sagen. Weißt du, er will dich doch nur verstehen ..."

Ja, ich wusste, wie manch einer von ihnen waren. Nicht Edda und Bente, die beiden waren toll und ich hatte extreme Schuldgefühle, dass ich sie so sehr aus meinem Leben schloss, obwohl sie einfach nur für mich da sein wollten, aber andere wiederum konnten wie Aasgeier sein. Klar, hier bei uns am Land passierte nicht viel und wenn dann doch einmal was Außergewöhnliches geschah und dann auch noch so eine Tragödie, da konnten sich einige einfach nicht beherrschen in ihrer Sensationsgeilheit. Dass es manche Menschen so befriedigte, sich am Leid anderer zu laben? Ich konnte es nicht verstehen ...

„Weißt du ...", Oma Betty atmete tief durch. „Es gab eine Zeit in meinem Leben, da dachte ich auch, es gäbe keine Zukunft mehr ohne Bernd. Keine Freude. Keine Sonne. Nur noch Dunkelheit und Einsamkeit. Aber das hätte mein Bernd nicht gemocht. Er hat das Leben geliebt. Jeden Tag genossen. Und ich musste lernen, es ihm gleichzutun. Für ihn und für mich selbst ...", endete sie seufzend. Dann landete eine ihrer Hände auf der meinen und sie drückte zu. „Das Problem mit dem Tod ist, dass er nur uns, den Zurückgebliebenen weh tut, dieser und wir uns selbst ... denn es sind wir, die uns selbst quälen, uns selbst bestrafen ... keiner unserer Liebsten würde uns je so sehen wollen ..."

Langsam ließ sie meine Hand los und fuhr sich über die Augen. „Weißt du, ich vermisse ihn jeden Tag und dieses Gefühl wird mir niemand nehmen können, es wird sich nie ändern. Egal wo ich bin und was ich mache, er ist immer bei mir und ich werde ihn nie vergessen." Ihre Hand landete an ihrem Anhänger, den sie um den Hals trug, und ihre Finger schlossen sich fest darum.

„Hmm ...", seufzte auch ich und schloss für einen Moment die Augen. Rein theoretisch wusste ich das alles, dennoch war ich noch nicht bereit zu akzeptieren, ihn nie mehr zu sehen, nie mehr seine Stimme zu hören. Ihn nie mehr in meine Arme schließen zu können. „Ich vermiss' ihn auch ...", murmelte ich tonlos. „Immer ..."

Die kleine Bäckerei am DeichWo Geschichten leben. Entdecke jetzt