Schädelkönig

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Als das erste Leben auf Erden erlosch, stieg ein Funken auf. Er leuchtete hell über der Dunkelheit des frühen Tages und sank schließlich hinab in die Zwischenwelt, wo er einen Ort fand, der Ewigkeit bedeutete. Dort schlug der kleine Funke Wurzeln, schwarz und schwer und knorrig erwuchs ein Baum daraus hervor, der Arbor, Baum des Lebens, aus dem Tod geboren. Und der Baum gebar Abbadon, den Abgrund, Herrscher über sein gleichnamiges Reich und seine Diener, die ihm folgten.

Scheol, die Zwischenwelt, war weiß. Der Boden war weiß, der Himmel ein heller, diesiger Nebel, undurchdringlich und ohne Substanz. Wände gab es nicht, nur einen unendlich erscheinenden Horizont ohne Farben. Hohe Hügel türmten sich auf und sie alle bestanden aus blanken Schädeln, größeren und kleineren, aufeinandergestapelt wie Ziegelsteine. Ein trüber, leuchtender Schemen schnellte durch den unendlichen Raum, ein leises Wimmern war zu hören, Mitleid erheischend und feige. Langsam formten sich menschliche Konturen, ein Schatten der Person, die sie einst gewesen sein mochte. Schimmernde Fetzen bildeten ein unförmiges Gesicht, leere Augen blickten sich hektisch um, Arme wie aus zerrissenem Stoff erhoben sich, formten eine flehende Geste.
„Nein bitte! Verschone mich! Ich… Ich tue alles was du willst! Brauchst du Geld? Ich habe Geld!!“ Fahrig und voller Panik tastet die Gestalt an sich hinunter, doch wo vor Kurzem noch ein schicker teurer Anzug gewesen war, griff sie ins Nichts. Sie zögerte. Das überstieg ihr Vorstellungsvermögen bei Weitem.
„Du Narr!! Geld nützt dir nichts mehr!“ ertönte eine donnernde Stimme, die so gar nicht von dem Jungen zu kommen schien, der ihr gefolgt war. Ohne Hast und doch das Ziel nicht aus den Augen verlierend. Dies war seine Welt.

Die zerfetzte Gestalt ließ ihren Blick über ihren Verfolger wandern, auf der Suche nach einer Möglichkeit ihn abzulenken oder doch noch zu bestechen. Er schien kaum älter als 8 Jahre zu sein und war in einen schwarzen Pullover gekleidet, der ihm viel zu groß war. Am Kragen, der schon arg zerschlissen war, hatte jemand eine Brosche in Form eines kleinen Schädels angebracht, ein Schmuckstück, dass er, entgegen der Kleidung, stets mit äußerster Umsicht zu pflegen schien. Um die Hüften herum hingen lange weiße Fetzen, die früher mal eine Hose gewesen sein mochten. Nun bemerkte die Gestalt ihren Fehler. Die Stimme kam von einem Totenschädel, der schwer in den Armen des Jungen lag. Er sah ausgesprochen missbilligend aus, obwohl er eigentlich keine Mimik hatte. Entgegen all der anderen bleichen Knochen, die sich um sie herum auftürmten, war er vergilbt und schmutzig, als hätte er wirklich einst gelebt und wäre nicht nur ein Symbol. Die zerfetzte Gestalt griff sich an den Kopf. Woher wusste sie all diese Dinge? Was geschah mit ihr? Der grimmige Schädel änderte seinen Ausdruck und eine dünne Stimme, kaum mehr als ein Flüstern, entrang sich dem Schädel: „Bitte mach es mir nicht so schwer. Es gibt für dich nur eine einzige Möglichkeit, Scheol und dir selbst zu entkommen. Lass mich dir helfen, weiterzugehen.“
„Sei nicht auch noch nett zu ihm, er macht uns nur Scherereien!! Ich habe in seine Seele geblickt, da bleibt am Ende kaum mehr Substanz übrig, als für ein Gänseblümchen reicht. Und er kann nun langsam erkennen, wo er ist. Das wird Auswirkungen haben. Zerfetzt ihn einfach!“
Der Junge schüttelte entschieden den Kopf und seine Stimme erklang durch den Schädel in seinen Armen: „Nein. Ich tue meine Pflicht und wenn er ein nur Gänseblümchen wird, dann ist es eben so. Ich kann IHM zudem keine Substanz vorenthalten, das weißt du.“
„Das ist wahr. Aber es ist trotzdem Verschwendung von Zeit und Mühe, wenn du mich fragst“ gab der Schädel zurück, schwieg dann aber. Vorsichtig legte der Junge ihn beiseite und machte einen Schritt auf die schemenhafte Gestalt zu, die ihn aus großen, leeren Augen anstarrte.
„Ich bin tot, nicht wahr? Ist das hier die Hölle?“ fragte sie tonlos und voller Furcht.
„Die Hölle?“ Der Junge hielt einen Moment inne, als müsste er gründlich darüber nachdenken. Er zuckte schließlich mit den Schultern und fuhr fort: „Für dich ist es nur ein Zwischenstopp. Keine Angst, ich befreie dich nun von deinen selbst auferlegten Sünden und du kannst gehen.“
„S…Sünden? Ich? Ich war der rechtschaffenste Mensch, der je gelebt hat!“
Ein schallendes Lachen entrang sich dem Schädel, der gerade noch vorgeschlagen hatte, diese Seele in der Luft zu zerreißen.
„Versuchst du dir das etwa wirklich einzureden und dann kannst du dich nicht mal selbst davon überzeugen? Ich habe alles gesehen. Was ist mit den Geschäftsdeals, die tausende Menschen ihre Arbeit gekostet haben und dir eine Jacht einbrachten? Und nicht zu vergessen der illegale Waffenhandel, der Bürgerkriege verlängert und zahllose Leben gefordert hat? Du bist wahrlich ein Unschulds-Engel, kann man so sagen.“
„Hä…hätte ich es nicht getan, dann tut es eben ein anderer…“ Die Seele versuchte stark und überzeugt zu klingen, doch es wurde ein unsicheres Flüstern, als hätte ihr Tod ihre Sicht auf die Dinge relativiert.
„Ja, die landen auch hier. Manche sind aber besser darin sich einzureden, dass sie Nichts falsch gemacht haben. Dann bleibt mehr von ihnen übrig.“ Der Schädel lachte heiser. Der Junge stand neben ihnen und verlor langsam die Geduld. Er war es gewöhnt, auf Widerstand zu stoßen, doch die meisten Seelen ergaben sich relativ schnell in ihr Schicksal, wenn sie erst einmal begriffen hatten, dass ihr Leben verloren war. „Ich fange jetzt an“ ertönte ein Flüstern aus dem Schädel „Versuch an ein paar Dinge zu denken, auf die du stolz bist.“ Er hob die Hände und die schemenhafte Gestalt begann weiter zu schwinden, noch bevor sie ein erneutes Wort des Widerstandes von sich geben konnte. Weißer Staub rieselte zu Boden und formte dort einen unnatürlich großen Schädel, der aus der Masse der anderen herausstach. Als der Junge sein Werk beendet hatte, blieb vor ihm in der Luft schwebend ein kleiner leuchtender Punkt zurück, der augenblicklich davon schoss, zu dem einzigen Gebilde im endlosen Raum, das kein Schädel war. Oben, von Nebel umhüllt, schwebte eine auf dem Kopf stehende Pyramide. Direkt darunter erhob sich eine Zweite, ein Spiegel der Ersten, doch schwarz statt weiß und in einem Pfuhl aus dunklem Wasser. Es sah ein wenig aus wie eine riesige Sanduhr und alle Seelen, die der Junge reinigte, gingen hindurch. Es war ein Portal nach Abbadon, dem Ort, an dem die Seelen ihren Weg zurück zur Erde fanden.

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