Es ist einige Zeit her, dass ich auf Gidrath war doch ich denke immer noch daran. Ich denke an meine Familie, meine Freunde und vor allem denke ich oft an meinen Meister. Auch wenn ich ihn verloren habe, hat er immer einen Platz in meinem Herzen.
Die Sonne geht langsam über dem Horizont von Capka auf. Ich reibe mir die Müdigkeit aus den Augen und mache mich bereit für den Tag. Sanjih ist schon auf dem Schiff und gibt ihren Gefolgsleuten Befehle. Sie sieht so unheimlich stark und selbstsicher aus. Manchmal verunsichert mich das immer noch, obwohl wir uns nun schon beinahe ein Jahr kennen.
Ich trete bis auf wenige Schritte zu ihr heran und gebe ihr einen kleines Kuss, um sie und den Tag zu begrüßen. Es ist schon Wahnsinn wie die Zeit vergeht. Eben sind wir noch Gefangene im Kerker von Fenix gewesen und nun stehen wir hier, einige Monate später, auf einem Schiff und retten die Welt. Irgendwie bin ich froh, dass diese grausame Geschichte den Umständen entsprechend gut ausgegangen ist. Auch wenn der Meister diese Grausamkeit nicht überlebt hat, geht es uns trotzdem allen gut und wir anderen sind lebend aus dieser Sache rausgekommen. Und nur das zählt.
Wie es Jovic wohl geht? Was er wohl macht und ob er zurechtkommt? All diese Fragen verfolgen mich immer noch also beschließe ich spontan, ihm einen Brief zu schreiben.
Ich möchte wissen wie es ihnen geht und ob sie alle wohlauf sind. Vor allem aber ob alles nach Plan läuft oder ob sie Hilfe benötigen. Mein Brief wird fast zehn Seiten lang, denn ich berichte außerdem noch von unseren Erlebnissen auf See. Sanjih, die mein Vorhaben mitbekommen hat, muss mich beim Schreiben regelrecht bremsen, damit es nicht zu viel auf einmal wird. „Du kannst ja öfter mal einen schreiben", rät sie mir und sie hat Recht.
Ich laufe mit den Blättern in der Hand zu Dathne, unserer Briefkundu, und binde sie sorgsam an ihrem Bein fest. Er ist ein treuer und zuverlässiger Vogel und ich würde ihm, ohne zu zögern die wichtigsten Briefe anvertrauen, denn er hat schon immer alles in kürzester Zeit an den Empfänger bringen können.
Ich binde die Zettel sorgsam an sein Bein und gebe ihm ein Zeichen, um ihm zu zeigen, dass er jetzt losfliegen kann. In ein oder zwei Tagen sollte er ankommen, also kann ich bis Ende der Woche mit einer Antwort rechnen.
Es sind mittlerweile schon fast zwei Wochen vergangen seit ich den Brief an Jovic verschickt habe. Danthe ist bis jetzt nicht wieder auf dem Schiff aufgetaucht was mir mehr als Sorgen bereitet.
Normalerweise sieht es weder ihm noch Jovic ähnlich, sich nicht zu melden. Wir halten immer engen Kontakt mit dem Institut, nachdem wir nach unserem langen Abenteuer auf den Nachbarinseln von Gidrath unsere Freundschaft entdeckt haben. Das Vertrauen ist groß und deswegen beunruhigt es mich auch so, dass Jovic sich nicht meldet.
„Wir müssen hinfahren und nachsehen was los ist!", bitte ich Sanjih, den Captain des Schiffs und gleichzeitig meine große Liebe, nun eindringlich. „Vielleicht ist etwas Schreckliches passiert oder jemand ist krank."
In Gedanken male ich mir schon die schlimmsten Dinge aus. Trixie oder Annika könnten eine schlimme Vergiftung oder eine tödliche Krankheit bekommen haben, Jovic vielleicht einen Unfall oder wer weiß was. Es lässt mir keine Ruhe, obwohl wir eigentlich im Auftrag der Menschen unterwegs sind, die sich nicht selbst helfen können, bestehe ich darauf, in eigenem Anliegen zu handeln.
„Kirajah, du weißt, dass wir nicht einfach so den Kurs wechseln können, um eben unsere Freunde zu besuchen. Es gibt Menschen da draußen, die uns brauchen und auf uns bauen. Wir verlieren unseren guten Ruf und die Menschen werden sich nicht mehr mit ihren Problemen an uns wenden, wenn sie einmal davon erfahren haben", antwortet sie und diese Aussage lässt mich doch einen Moment innehalten. Natürlich hat sie Recht, und doch muss ich wissen was Zuhause los ist.
„Dann lass mich allein gehen. Ich kann den Gebirgspfad nehmen und mich durch den Wald zu ihnen durchschlagen. Es dauert nur ein paar Tage bis ich da bin", dränge ich weiter.
„Du weißt wie das beim letzten Mal funktioniert hat. Nämlich gar nicht."
„Bitte lass es mich versuchen", dränge ich es ein letztes Mal. Sie muss mich einfach gehen lassen, wenn sie mir schon nicht helfen kann.
Sie scheint ehrlich darüber nachzudenken und schaut schließlich zu den anderen Kriegerinnen, die unseren Streit mitbekommen, und sich um uns versammelt haben.
„Was meint ihr?", möchte sie nun von den anderen wissen. Eine nach der anderen schaut sie auffordernd an bis ihr Blick schließlich an ihren beiden Stellvertreterinnen Sleyah und Nambi hängen bleibt.
Die beiden sehen sich einen Moment an bevor Nambi sagt: "Sie sollte nicht allein in den Nomi Wäldern herumirren. Gib ihr das kleine Boot und lass sie ihre Familie suchen. Wie würdest du dich fühlen, wenn dein Bruder Hilfe bräuchte, aber du nicht zu ihm gehen würdest. Und stell dir vor, er hätte dich wirklich gebraucht." Sie lächelt mich an während sie redet und ich nehme mir insgeheim vor, mich später bei ihr dafür zu bedanken. Jetzt allerdings muss ich mich auf die restliche Überzeugungsarbeit konzentrieren.
Nachdem ich Sanjih komplett überzeugt hatte, bin ich mit meiner gepackten Tasche, in der sich Proviant, eine Karte und andere nützliche Dinge befinden, in das Boot gesprungen und davon gerudert, bevor sie es sich anders überlegen konnte.
Einige Tage später bin ich dann zurück im Institut und es fühlt sich so an, als wäre ich nie weg gewesen. Ich werde von dem alten Gemäuer begrüßt, als wäre ich die ganze Zeit hier gewesen und auch die Leute, die hier leben verhalten sich genau wie immer. Mit Ausnahme von Annika. Sie fällt mir unter Tränen in die Arme und beteuert, wie sehr ich doch gefehlt habe und dass es gut ist, dass ich nach dieser langen Zeit endlich wieder da bin.
„Ich freue mich auch darüber, dass ich wieder hier sein kann. Auch wenn es ein echter Kampf war, Sanjih davon zu überzeugen, mich gehen zu lassen", erzähle ich ihr sofort.
„Ja das glaube ich. Sie hatte sicher große Angst, dass dir etwas zustößt, allein wie du in der Welt umherläufst," entgegnet sie mit einem mütterlichen Lächeln auf den Lippen.
„Was soll ich dazu noch sagen?", entgegne ich lachend und mache mich von ihr los, nachdem sie mich lang und ausgiebig umarmt hat. Als Nächstes möchte ich gern zu Jovic, um mich über die Tatsache zu erkundigen, dass er mir auf meinen Brief nicht geantwortet hat.
Es muss etwas passiert sein und ich möchte herausfinden was es ist.
Ich klopfe schwungvoll an seine Tür und betrete den Raum, ohne auf eine Antwort zu warten. Ich bin ein kleines bisschen enttäuscht darüber, dass ich erst herkommen muss, um von den Problemen meiner Familie zu erfahren, verberge es aber als ich das fahle, faltige Gesicht meines Freundes sehe. Er war schon immer sehr dünn und geradlinig aber jetzt sieht er schon fast abgemagert aus. Ich kann nicht verhindern, dass er meinen besorgten Blick bemerkt, aber er lässt sich nichts anmerken.
Auch von ihm bekomme ich eine dicke Umarmung, bevor er sich freudestrahlend auf seinen Sessel niederlässt. Ich muss sofort daran denken, dass er vorher einmal Meister Demoncurt gehört hat, und werde ein wenig melancholisch.
„Was führt dich hierher Kirajah? Ich dachte du und Sanjih reist um die Welt, um bedürftigen Menschen zu helfen. Das wolltest du doch so dringend für euren Neuanfang." Damit reißt er mich aus meinen Gedanken an meinen geliebten Meister.
„Ich habe dir vor etwa drei Wochen meinen Briefkundu geschickt und immer noch keine Antwort erhalten. Ich habe mir viele Gedanken gemacht darüber, ob euch vielleicht etwas zugestoßen ist und musste mich einfach vergewissern, dass es euch gut geht. Warum hast du nicht geantwortet?"Er sieht ein wenig verlegen aus als er mir gesteht, dass er nicht wusste was er schreiben soll. Anscheinend haben sie hier seit dem Tod von Fenix einige Probleme mit seinen Anhängern. Sie versuchen das Institut zu besetzen, weil sie denken, dass die Leute hier während meiner Abwesenheit wehrlos sind. Er versichert mir jedoch, dass keiner der hier Lebenden zu irgendeinem Zeitpunkt in Gefahr war. Alistar scheint daran nicht ganz unschuldig zu sein. Die vielen Unterrichtsstunden in Verteidigung haben ihn gestärkt und er ist mittlerweile meisterhaft darin, sich gegen seine Feinde zu verteidigen. Gerade gestern gab es den letzten Angriff und er hat alle in die Flucht schlagen können. Natürlich nicht ohne Hilfe, und doch vertrauen sie am meisten auf ihn und sein Können.
„Du meinst also, dass ihr fast täglich von Fenix' Leuten angegriffen werdet, und keiner mal auf die Idee gekommen ist mir das zu sagen?" Mittlerweile kann ich meinen Ärger nicht mehr verbergen. „Ich hätte helfen können! Wir hätten sie gemeinsam besiegen können, uns etwas ausdenken wie sie für immer wegbleiben! Was ist los mit dir? Vertraust du mir nicht mehr?", möchte ich nun wissen.
„Doch ich vertraue dir, sehr sogar. Aber du warst so mit deinem Leben beschäftigt und damit, endlich glücklich zu werden. Ich wollte dir das nicht verderben, indem ich dir meine Probleme aufhalse. Das hast du nicht verdient." Ich kann die Traurigkeit, aber auch die Belastung in seinen Augen sehen. Es sieht so aus als hätte er sich darüber schon einige Gedanken gemacht.
Als ich am nächsten Morgen mein Frühstück genieße, kommt Alistar gerade aus seinem Zimmer. Er ist zu spät zum Essen, offenbar immer noch eine seiner schlechten Gewohnheiten von früher. Er huscht schnell an mir vorbei und nickt nur auf die Frage, ob ich nicht eine seiner Kampfstunden übernehmen soll. Vielleicht kann ich ihm noch etwas beibringen. Vielleicht kann ich ihm in Sachen Stärke nicht helfen, aber die Technik habe ich auf jeden Fall besser drauf als alle anderen hier. Mit Ausnahme vielleicht von Dariuz, dem Mann den der Meister damals für die erste meiner Prüfungen beauftragt hatte. Die Art und Weise war zwar ziemlich fies, dafür habe ich an diesem Tag aber wirklich viel gelernt. Er wäre sicher ein guter Lehrer. Ich glaube, ich werde Jovic fragen, ob es nicht vielleicht eine gute Idee ist, wenn Dariuz den Unterricht von Alistar übernimmt.
Die Zeit mit Alistar ist Balsam für meine Seele. Wir haben viel Spaß und reden ausgiebig über alles, was uns gerade in den Sinn kommt. Alistar hat hier, genau wie ich früher, niemanden in seinem Alter und freut sich sichtlich, dass ich da bin. Er erzählt mir von den Problemen, die hier andauern und dass er Angst hat es irgendwann nicht mehr zu schaffen, die feindlichen Anhänger zu vertreiben. Davon wie knapp es schon mehrmals war und davon, dass er sich viel selbst beibringen musste, denn keiner der Lehrer versteht sich ausreichend gut auf die Kampfkunst. Jovic versucht es zwar, könnte aber eher von ihm lernen als ihm etwas beizubringen. Gerade als ich dabei bin, ihm eine neue Technik zu zeigen, bei der er dem Gegner, wenn dieser versucht ihm einen Tritt zu verpassen, das Bein wegschlägt, damit er seitlich an ihm vorbei einen Schlag ausführen kann, schlägt es in einem schrillen Ton zum Alarm. Ich habe nie verstanden woher dieser Ton kommt, glaube aber fest daran, dass er von der Insel selbst kommt, um alle möglichen Leute darauf aufmerksam zu machen.
"Was ist los?" Ich drehe mich erschrocken zu Alistar um und sehe in sein steinhartes Gesicht. Er presst die Lippen zu einer schmalen Linie zusammen und starrt zur Tür hinaus auf den Flur. Ohne ein Wort zu sagen, stürmt er hinaus Richtung Innenhof, der direkt gegenüber der Kampfhalle liegt.
Ohne zu zögern renne ich ihm hinterher und rufe ihm sämtliche Fragen, die mir gerade einfallen, hinterher. "Was passiert hier? Sind das Fenix' Anhänger? Greifen sie etwa schon wieder an?" Doch ich bekomme keine Antwort. Er rennt vor mir her und scheint mich überhaupt nicht mit zu bekommen. Erst in unserem einst wunderschönen Innenhof kommt er zum Stehen, genau wie ich. Als ich die Verwüstung bemerke, die dort vorherrscht, schnappe ich entsetzt nach Luft und lasse das Übel auf mich wirken.