Kapitel 1

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„Junge, der Tee ist alle"

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„Junge, der Tee ist alle". Misha zuckte zusammen. Jedesmal, wenn Baghra ihn ansprach tat er das. Ihre Stimme war so unerwartet kräftig, dass es ihn jedes Mal aufs Neue erschreckte. „Ich hab mit dir geredet...", sagte sie, während sie mit dem Gehstock in ihrer Hand herum fuchtelte. Geduldig war die alte Frau nicht. Stattdessen drehte sie ihren Kopf in seine Richtung, als wolle sie ihn streng und mit einem mahnenden Blick anschauen. Ihm lief ein schauer über den Rücken, obwohl er wusste, dass sie ihn nicht sehen konnte. Mit ihrem langen knochigen Gesicht, der Falten und der blassen Haut, sah sie aus wie in ein die Jahre gekommener Geist. Aber am meisten Angst hatte er vor ihren Augen. Misha wusste, dass ihre Augen noch nicht lange so waren, aber Andrej wollte ihm nicht sagen, was mit ihr passiert war. „Du bist noch zu klein für diese Geschichte", meinte er. Seit er das gesagt hatte, hat Misha ihn nicht mehr gesehen. Er fragte sich, ob er überlebt hatte. Misha würde sich sehr freuen, wenn er überlebt hätte. Aber er hatte ihn nicht mehr gesehen. Leider.

Dunkle Schatten krochen die Wände entlang. Immer mehr Schatten wurden es. Misha konnte sehen, wie sie sich zusammen fügten, und Arme, Beine, ganze Körper bildeten. Er schrie wie am Spieß und ließ vor Schreck das silberne Tablett mit den Gläsern fallen. Er wollte wegrennen, ganz schnell. Er wollte zu seiner Mutter, die Monster nicht mehr sehen. Plötzlich hörte er andere Stimmen. Andere Schreie. Er musste hier weg. Schnell.

„Na los jetzt!", sagte Baghra und weckte ihn wieder aus seinen Gedanken. Schnell stellte Misha ihre Tasse wieder auf das Tablett und verließ das Zimmer. Es war beinahe immer dunkel und so musste er aufpassen, über nichts zu stolpern. Einmal war er gestolpert und hatte sich das Knie aufgeschürft. Es hatte schrecklich gebrannt und er hatte geweint.

Er spürte, wie ihm Tränen über die Wangen liefen. Immer mehr Tränen und sie wollte nicht verschwinden. Misha rannte und rannte. Immer weiter die Gänge des kleinen Palastes entlang. „Mama!", schrie er und schaute sich hektisch um, als er in der Küche ankam. Wo war sie nur? Sie war doch genau hier gewesen! „Mama!" Niemand antwortete. Ein Mann rempelte ihn im vorbeirennen an. Aua! Misha wollte sich umdrehen und den Mann fragen, ob er seine Mutter gesehen hatte, da sah er, weshalb dieser weggelaufen war. Am Eingang stand eines der schwarzen Monster und überall war Blut. Woher kam das Blut? Wieso war die Wand rot? Die Wand war doch weiß. Misha verstand nichts mehr. Wo war seine Mutter? Weshalb waren überall diese Monster? „Pass auf!", schrie eine Frau mit zitternder Stimme, aber es war zu spät. Er sah, wie ein Junge vor ihm zu Boden sank. Sein ganzer Oberkörper voller Blut. Misha konnte nicht mehr anders. Er fing wieder an zu schreien. Er wollte nicht mehr hier sein. Er wollte nicht sterben.

Langsam stellte er die wieder aufgefüllte Tasse auf das Tablett, so dass nichts überschwappte. Er hob es hoch, um zurück zu Baghra zu gehen, als er stolperte. Das Porzellan war zerbrochen und lag überall verteilt auf dem Boden. Oh nein! Das wollte er nicht. „Soll ich dir helfen, kleiner?", fragte jemand.

„Hey, komm mit!", sagte eine Frau und zog ihm am Arm aus der Küche. „Aber ich muss hier auf meine Mama warten!", schrie Misha. „Wir können jetzt nicht auf deine Mama warten. Wenn du jetzt nicht mit kommst, wird dieses große, unheimliche Monster dich töten!" Misha wollte nicht sterben und die Frau schien sehr ungeduldig. Außerdem sah sie nett aus. „Folg mir einfach und bleib nicht stehen, ok?" Er nickte. Mit ihrer Purpurnen Kefta, konnte er sie eh nicht aus den Augen verlieren, in all dem Trubel. „Steig hier aufs Boot, dann wirst du in Sicherheit gebracht", sagte sie hastig, bevor sie wieder davon lief und sich in die Menschenmassen stürzte.

Gemeinsam fegten sie die Scherben auf und Misha befüllte eine zweite Tasse. „danke", sagte er schüchtern und ging diesmal etwas vorsichtiger zurück zu Baghra, damit das ja nicht wieder passierte. Sie wartete bestimmt auch schon ganz ungeduldig.

Misha war sicher. Er und eine Handvoll andere. Seine Mama war nicht aufgetaucht. Auch Andrej und die Frau mit der purpurnen Kefta nicht. Stattdessen, befand er sich in einen fliegenden Bott. In einem Bott, wie es nur in Märchen ist. Jemand hatte ihm eine Decke gegeben, damit er nicht fror, aber es fühlte sich an, als würden seine Tränen in der Nächtlichen Kälte gefrieren und wie kleine kalte Kristalle auf seiner Wange kleben bleiben. Seine Mutter war tot. Höchst wahrscheinlich. Er wusste es nicht genau. Zwar hatte man es ihm gesagt, aber vielleicht hatte die Person ja gelogen. Vielleicht hatte seine Mutter überlebt. Vielleicht konnte sie fliehen. Vielleicht würde Misha sie wieder sehen...

MishaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt