Wir sitzen eine Ewigkeit hier im Flur und können nichts anderes machen, als zu warten. Malus Mutter kommt auch irgendwann dazu. Ihr Vater versorgt uns regelmäßig mit Updates. Lange Zeit tut sich nicht viel. Die Zeit vergeht quälend langsam.
„Wir können jetzt zu ihr.", sagt er irgendwann. „Sie wird noch beatmet, aber ihr Zustand ist wieder stabil."
Erleichterung überkommt mich. Auch Theo scheint das erste Mal seit Stunden wieder vernünftig zu atmen und lässt langsam die Schultern etwas sinken, die er zuvor verkrampft hochgezogen hatte.
Wir lassen Malus Eltern die Zeit, zuerst zu ihr zu gehen. Erst dann betreten wir den Raum, in dem sie liegt.
Ihr Körper sieht winzig aus, wie er da in dem Bett unter einer großen Decke liegt. Sie ist blass, doch hat zum Glück eine bessere Farbe angenommen. Ein EKG piepst regelmäßig vor sich hin, während eine Infusion in ihren Arm fließt.
Sie sieht friedlich aus, wie sie da liegt. Ich nehme mir einen Stuhl und setze mich neben ihr Bett, Theo setzt sich auf die andere Seite. Wir schweigen, während wir beide in unseren eigenen Gedanken gefangen sind.
Es beruhigt mich etwas, dass sie so friedlich aussieht, trotz der Schläuche und Kabel, an denen sie hängt. Vorsichtig nehme ich ihre Hand, als wäre sie etwas Kostbares, etwas Zerbrechliches. Ihre Finger sind kühl, doch ihre Haut ist genauso weich, wie ich sie in Erinnerung habe. Nachdenklich streiche ich darüber.
„Du magst sie wirklich, oder?", kommt es plötzlich von Theo.
Ich blicke auf. „Ja. Ja, ich mag sie wirklich sehr." Mit einem Mal kommen mir die Tränen. Der Streit, die Angst, all die Anspannung – all diese Gefühle scheinen mit einem Mal aus mir herausbrechen zu wollen.
Theo lächelt traurig. „Vielleicht solltest du ihr das sagen, wenn sie wieder aufwacht."
Ich nicke. Er hat Recht. Das heute hat mir wieder einmal gezeigt, wie wichtig sie mir ist. Und sie sollte das wissen. Auch auf die Gefahr hin, dass ich wieder eine Abfuhr von ihr bekomme. Aber immer weiter damit zu leben, dass sie es nicht weiß, kommt für mich auch nicht in Frage.
Malu wird an diesem Tag nicht mehr wach. Am nächsten Tag quäle ich mich durch die Schulstunden, kann mich jedoch absolut nicht konzentrieren. Die ganze Zeit warte ich auf eine erlösende Nachricht von Theo, doch sie kommt nicht. Direkt nach der letzten Stunde fahre ich wieder zum Krankenhaus, in der Hoffnung, dass es gute Neuigkeiten gibt.
In Malus Zimmer sitzen ihre Mutter und Theo. Sie schütteln nur den Kopf. Nichts neues. Sie schläft immer noch. Malus Mutter hat tiefe Ringe unter den Augen. Ich frage mich, ob sie überhaupt geschlafen hat, denn sie sieht nicht danach aus.
„Wenn Josh jetzt hier ist, können wir beide vielleicht mal kurz nach unten in die Cafeteria gehen.", sagt sie an Theo gewandt. „Ich bräuchte langsam mal eine Kleinigkeit zu essen. Und ein Kaffee würde auch nicht schaden."
Theo zögert kurz, sein Blick liegt erst auf seiner Schwester, dann auf mir. Dann nickt er. Auch er sieht unglaublich blass und müde aus. Beim Rausgehen klopft er mir kurz bestärkend auf die Schulter.
Ich setze mich wieder an Malus Bett. Es tut gut, mal für einen Moment mit ihr allein zu sein. Wieder nehme ich ihre Hand und streichele sanft darüber. Dann lege ich meinen Kopf auf die Decke und schließe kurz die Augen. Auch bin müde und habe in der letzten Nacht kaum ein Auge zugemacht, was mir jetzt in den Knochen steckt. Wie gerne ich mich einfach zu ihr legen und sie an mich drücken würde.
Eine Weile döse ich vor mich hin – bis plötzlich eine kleine Bewegung durch Malus Hand geht, die ich immer noch halte. Ich schrecke auf und setze mich ruckartig auf. Ihre Augenlider öffnen sich zitternd. Es dauert ein bisschen, bis sie sich gesammelt hat.
Malus Blick huscht durch das Zimmer und bleibt dann bei mir hängen.
„Hey.", sage ich leise. Ich kann nicht anders, als zu lächeln.
Malu sieht erst noch etwas verwirrt aus, dann scheint sie mich zu erkennen. „Hallo.", sagt sie mit heiserer Stimme. Ich schütte etwas Wasser in das Glas, das auf dem Tisch bereit steht und gebe es dann vorsichtig Malu. Ihre Hand zittert, als sie das Glas zum Mund führt.
„Du hattest einen ziemlich starken Anfall gestern.", sage ich. „Ich... hatte große Angst." Immer noch halte ich ihre Hand und sie macht auch keine Anstalten, sie loszulassen. Malu stellt das Glas wieder ab und schließt ihre Augen. Ich wüsste gerne, wie sie sich fühlt und wünschte, ich könnte ihr irgendwie etwas von ihrem Leid abnehmen.
Ich drücke auf dem Knopf neben ihrem Bett, um eine Schwester zu rufen. Kurze Zeit später wird die Tür geöffnet. Zum ersten Mal löse ich mich von Malu. „Sie ist wach."
Malus Perspektive
Ich nehme meine Umwelt vernebelt wahr, als wäre ich hinter einer Milchglasscheibe, durch die verzögert gedämpfte Stimmen dringen. Auch mein Körper fühlt sich nicht wirklich an, als würde er zu mir gehören – was vielleicht auch besser ist, denn so kann ich nicht die Schmerzen spüren, die mit Sicherheit irgendwo auf mich warten. Das Einzige, was ich ungefiltert wahrnehme, ist Joshs Hand an meiner. Sie fühlt sich an wie ein Anker, der mir Sicherheit gibt, wie eine Verbindung in die Realität.
Doch irgendwann lässt er mich los und Kälte macht sich in mir breit, als hätte jemand einen Eimer voll eiskaltem Wasser über meinen Körper gegossen.
„Malu? Malu, hörst du mich?", höre ich wie durch Watte eine Stimme.
Ich gebe ein undefinierbares Stöhnen von mir als Zeichen, dass ich etwas mitbekomme. Doch alles fühlt sich anstrengend an. Mein Hals tut weh.
„Versuch mal, die Augen zu öffnen."
Gequält blinzele ich. Meine Augenlider sind schwer. Unscharf sehe ich eine Ärztin vor mir. Daneben stehen zwei weitere Personen. Mein Blick schwirrt durch den Raum, ich suche einen Halt, irgendetwas, woran ich mich festhalten kann. Mir ist schwindelig.
Jemand schlägt die Bettdecke von meinem Körper. Mir wird noch kälter. Ich fange an zu zittern. Meine Füße werden von irgendwem berührt, was sich nicht gut anfühlt. Ich schnappe nach Luft.
„Bitte einmal meine Hände drücken.", höre ich jemanden sagen, doch den Sinn der Worte kann ich nicht entschlüsseln. Es ist, als würde jemand wahllose Buchstaben in den Raum werfen und ich stehe überfordert daneben. Ich bemerke erst danach, dass die Person meine Hände genommen hat. Reflexartig ziehe ich sie weg. Ich will mich aufsetzen, habe plötzlich einen merkwürdigen Fluchtinstinkt. Ich verstehe nicht richtig, was diese Leute von mir wollen.
Als ich mich aufrichte, verstärkt sich mein Schwindel und mein Körper kippt leicht zur Seite. „Liegen bleiben.", sagt jemand, dann werde ich zurück auf das Bett gedrückt. Auch wenn die Berührung nur leicht ist, bin ich so kraftlos, dass ich mich nicht dagegen wehren kann.
Der Raum um mich herum dreht sich immer schneller. Ich schnappe nach Luft, doch sie fühlt sich stickig an. Das Piepen des Herzmonitors beschleunigt sich, es klingt schrill und bedrohlich. Ich habe das Gefühl, nicht mehr atmen zu können. Ich ersticke, würde ich gerne sagen. Ich sterbe, wenn mir niemand hilft.
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control
Teen FictionMalu mag Bücher und ein ruhiges und geregeltes Leben. Manchmal fragt sie sich, ob sie und ihr Bruder Theo wirklich verwandt sind - denn der und seine Freunde sind das Gegenteil von ihr. Dass Theos Freunde und sie sich gegenseitig nicht ausstehen kön...