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  Ein Geräusch durchdrang die Stille, und Ella erstarrte. War es das Knarzen alter Dielen oder klopfte jemand an der Tür? Es war so leise, so subtil, als hätte jemand vorsichtig mit den Knöcheln gegen das Holz getippt. Die Unsicherheit nagte an ihr, als sie Richtung Tür tappte.
  "Hallo?", flüsterte sie und öffnete die Tür einen Spalt. Niemand da.
  Vor ihr erstreckte sich lediglich ein langer Flur, dessen Wände von grauen Türen mit blauen Türrahmen flankiert waren. Die Tapete an der Wand – die untere Hälfte in lachsfarbenem Muster, die obere in einem verwaschenen Gelb – schien die Zeit vergessen zu haben. Etwa fünf Meter entfernt befand sich eine weitere Glastür, umrahmt von blauem Stahl, die den Flur in zwei Hälften teilte.
  Da war es wieder, das Geräusch.
  Es schien nicht von hier zu kommen, sondern eher... von unten?
  Ella ließ sich auf den Boden nieder und schob ihr Ohr über den gesprenkelten Kautschukboden. Ein heftiger Ruck durchzog den Boden, als wäre eine schwere Stahltonne oder etwas Ähnliches gegen eine Wand gestoßen. Diesmal hörte es sich an, als wäre eine braune Bierflasche zerschellt, als würde Glas auf den Boden stürzen und in tausend Scherben zerbrechen. Ella spürte, wie Gänsehaut ihren Körper überzog. Kam es wirklich von unten?
  Verwirrt drehte sie sich um, doch niemand war da. Kein Schatten, keine Spur von jemand anderem.
  Ihr Inneres tobte vor Verwirrung und Angst. Sie konnte sich nicht leisten, den Verstand zu verlieren, nicht jetzt. Ihre Zukunft hing davon ab, sie musste stark sein. Doch die Geräusche, die jetzt wie ein Echo in ihrem Kopf nachhallten, brachten sie aus dem Gleichgewicht.
  Es folgten Schritt.
  Schritte?
  Schritte auf dem Kautschukboden, das musste Corbyn sein.
  Oh Gott, was würde er von ihr denken, wenn er sieht, wie sie wie ein Wahnsinnige über den Gummiboden robbt?
  Panisch eilte sie auf allen Vieren zurück in ihr Zimmer und trat die Tür hinter sich zu.
  "Alles in Ordnung?", erklang Corbyns besorgte Stimme im Gang.
  "Ja, ich bin bloß gestolpert", antwortete sie mit zitternder Stimme und versuchte, ihre Aufregung zu verbergen, während ihr Herz wild klopfte.
  Sie muss abschließen, genau, den Schlüssel umdrehen. Doch mit einem Blick wurde ihr klar, dass nicht nur der Schlüssel, sondern das ganze Schloss fehlte - es gab überhaupt keinen Schließmechanismus. Fuck.
  Die Türklinke bewegte sich und Corbyn stand vor ihr.
  "Hast du dich verletzt?", fragte er besorgt.
  Sie schüttelte den Kopf und versuchte, so normal wie möglich zu wirken.
  "Ok, ich wollte dir nur Bescheid sagen, dass ich heute Abend ausgehe. Mach in der Zeit also nichts Dummes."
  Sie nickte, er verließ den Raum.
  In derselben Sekunde ließ sich Ella wieder auf den Boden fallen, aber sie hörte nichts mehr. Keine lauten, unidentifizierbaren Geräusche. Also begann sie neugierig vorsichtig gegen den Boden zu klopfen. Es klang hohl. Unter ihrem Zimmer schien ein Hohlraum zu sein.
  Dann passierte das Unerwartete: Ein Klopfen, das von unten kam, antwortet ihr. Dieses Klopfen war nicht so vorsichtig wie ihres, sondern laut und unregelmäßig. Es polterte in einem Muster und setzte kurz aus, nur um das selbe Muster zu wiederholen. Ella konnte fühlen, wie sich ihr Herzschlag mit dem unheimlichen Rhythmus des Klopfens synchronisierte.
  Es war, als ob das Haus ihr etwas mitteilen wollte, doch ihre Gedanken begannen zu rasen. Was dachte sie da? Oh Gott, sie wurde verrückt. Zuerst die Halluzinationen unter Alkohol, dann diese Albträume und Flashbacks, und jetzt sah sie überall Zeichen. Dieses verdammte Trauma zerfraß ihren Verstand. Warum? Womit hatte sie das verdient? Ihr Inneres fühlte sich an wie ein Labyrinth, aus dem es kein Entrinnen gab.
  Ihre Hände bebten durch die Vibration des Bodens, denn das Klopfen von unten wurde lauter, bedrohlicher. Wo ist die braune Bierflasche? Das Bild wurde unscharf. Kopf, hör auf damit. Sie wollte das nicht. Sie durfte das nicht zulassen. Aber die Grenze zwischen Realität und Wahnsinn verschwamm vor ihren Augen, und Ella fühlte, wie ihre eigene Psyche langsam zu zerbrechen schien.
  In einem verzweifelten Versuch, die unheimlichen Geräusche zu übertönen und ihre aufsteigende Verzweiflung zu ersticken, begann Ella sich die Finge bis ans Trommelfell zu drücken und leise vor sich hin zu singen.

  "Frosty the Snowman
  Was a jolly happy soul..."
  Anfangs verschluckte sie die Hälfte der Silben, doch es wurde besser.
  "With a corn cob pipe and a button nose
  And two eyes made out of coal."

  Es funktionierte, sie konnte sich selbst beruhigen. Sich wieder retten, denn sie war fest entschlossen, nicht den Verstand zu verlieren.
  Nachdem Ella genug Mut in sich gesammelt hatte, brach sie aus ihrem Zimmer hinaus in den langen Flur und ließ die schwere Glastür hinter sich ins Schloss fallen. In diesem Moment schien die Stille des Flures sie förmlich zu umhüllen, ihre Stille war so dicht, dass sie sich traute, die Finger aus ihren Ohren zu nehmen. Sie schmierte den klebrigen Ohrenschmalz an der Innenseite ihres Pullovers ab und überprüfte, ob ihre Finger noch unangenehm stanken.
  Ihre Sinne schärften sich wieder, als sie ihre Gedanken sortierte und die Umgebung auf sich wirken ließ. In diesem seltsamen Flur stach ihr plötzlich eine Tür ins Auge, die sich von den anderen deutlich abhob. Diese Tür war breiter und imposanter, mit einer dunklen Holzverkleidung, die von kleinen Metallschienen durchzogen war, in die man offenbar diverse Schilder einschieben konnte. Die zahlreichen Kratzer auf dem Holz zeugten von häufigem Gebrauch. Neben der Tür hing eine Pinnwand, übersät mit handgeschriebenen Zetteln auf Französisch, die Ella bedauerlicherweise nicht entziffern konnte.
  Diese Tür übte eine seltsame Anziehungskraft auf sie aus. Ella konnte nicht begreifen, warum jemand eine so prächtige Tür mit Infoschildern verunstalten würde, besonders da gleich daneben bereits eine Pinnwand hing. Dennoch ließ diese mysteriöse Pforte ihre Neugierde erwachen, und sie spürte den unbezwingbaren Drang, herauszufinden, was sich dahinter verbarg.
  Entschlossen lehnte sie sich gegen den verschnörkelten Türknauf, und überraschenderweise bewegte sich die Tür, als wäre sie ohne jeglichen Schließmechanismus. Der Raum, den sie betrat, wirkte trotz seiner Größe wie ein verlassener Trauerort. Die majestätische Weite des Raumes wurde durch einen unheilvollen Zug aus sieben massiven, rechteckigen Säulen durchbrochen. An der mittleren Säule schienen einst die Umrisse eines Kruzifixes gehangen zu haben, doch nun war nur noch die bleiche Erinnerung an seine Existenz auf der Wand zu erkennen.
  Der Raumabschnitt, der sich hinter den Säulen erstreckte, wirkte wie ein düsteres Mahnmal vergangener Zeiten. Holzbänke und Tische, die farblich überhaupt nicht zum eleganten Fischgrätenparkett passten, waren wahllos durcheinander gestapelt. Über ihnen hatte jemand frische weiße Farbe aufgetragen, die sich drastisch von der verblassten, alten Farbe abhob. Die Übermalung schien wie ein großes Zitat oder vielleicht ein Psalm gewesen zu sein, doch dessen Bedeutung blieb Ella verschlossen.
  Der beißende Geruch der frischen Wandfarbe drohte, ihre Sinne zu überwältigen, und sie spürte, wie ihr Kopf zu schmerzen begann. Schnell verließ sie den Raum und schloss die Tür hinter sich. Doch das beklemmende Gefühl dieses seltsamen Ortes blieb in ihrer Brust, als hätte sie die traurige Vergangenheit dieses verlassenen Raumes spüren können.

~~~

  Ist schon wirklich mies, wenn man den Verstand verliert...
  Oder was denkt ihr, woher die Geräusche kommen? Ist es ein Traum, eine Halluzination oder ist da vielleicht wirklich etwas unter ihr.
  Vielen Dank für's Lesen, ich würde mich über Feedback freuen.

  ~ Manon

Fragmente eines taumelnden GeistesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt