Die schöne Fremde

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Für mein Herz Viktoria. 

Weil eine Karte allein den Gefühlen nicht gerecht wird, die ich für dich im Herzen trage. 

Es ist ein ruhiger, nebliger Tag in der kleinen, versteckten Bucht. Der stürmische Ozean liegt still zu Füßen der steilen Klippen. Als würde er lauernd warten, geduldig und leise, wie eine Katze bei der Jagd. Die Lichter in den Häusern sind gedimmt, die Stimmen gesenkt. Der Neben zieht durch die Straßen und vertreibt die Sonne langsam aus dem Dorf. Nur oben, auf den Klippen steht ein altes Haus, welches der Nebel nicht einzunehmen vermag. Die sanfte, kühle Wintersonne spiegelt sich in den Fenstern, Efeu zieht sich das Mauerwerk hinauf. Unscheinbar steht das alte Haus auf den Klippen, ein Fremder vermag es zu übersehen oder als unwichtig erachten, aber die Menschen im Dorf wissen um die Bedeutsamkeit des Hauses. Es ist das Herz des Dorfes, der Ursprung aller Freude und allen Lebensmutes. Die Stimmung im Haus entscheidet über Ebbe und Flut, über Sturm und Wind, über Ruhe und Aufruhr. Noch liegt das Haus zeitvergessen auf den Klippen, unbemerkt. Doch die gedämpften Stimmen hinter den getrübten Fenstern im Dorf, kündigen es bereits an. Es herrscht stille Aufregung. Es wird Besuch erwartet im Herzen des Dorfes. Die Menschen blicken gespannt und ängstlich aufs Meer hinaus. Herrscht Aufregung im Herzenshaus, so herrscht Sturm auf dem Meer. Wer wird erwartet? Wann gedenkt der Besuch einzukehren? Keiner weiß, wann es geschieht, keiner weiß was geschehen wird. Sie wissen nur es wird geschehen und es wird bald geschehen.

Während der Ozean ruhig und geduldig, und die Menschen in den abgedunkelten Räumen, ungeduldig und unruhig, warten, so ist in dem Haus auf den Klippen schon ganz im Stillen geschehen, was alle noch erwarten. Vor der Türe steht eine junge Dame. Ihr fliedernes Kleid weht sanft um ihre Beine. Die rostende Türklinge in der einen Hand. Einen, für eine solch feine Dame ungewöhnlich großen Koffer, in der anderen Hand. Ihr Blick ist entschlossen, warm, strahlend. In dem Moment, in welchem sie das Haus betritt, ist es als hätte sie ein Stückchen Sonne mit hineingebracht. Warme Sommersonne, wie sie nur an den schönsten Auggusttagen zum Vorschein tritt

Das Innere des Hauses ist verwinkelt, an den Wänden der Diele hängen Kränze von Blumen. Auf den Kommoden und Schränken stehen Vasen, pompöse Vasen, gläserne Vasen, reich beschmückte und ganz schlichte Vasen. Doch sie alle sind gefüllt mit Blumen. Große gebundene Sträuße oder kleine, lose Wiesenblumen. Blumen in grellen, lebendigen Farben. Blumen die einen süßen, betörenden Duft verströmen. Blumen, die so welk sind, dass sie beinahe gläsern wirken. Als hätte man sie in einen milchigen See getunkt, bevor man sie in der Vase platzierte. Eine Blumenvielfalt, die gleichermaßen von Lebendigkeit wie auch von Leblosigkeit strotzt. Eine Myriade an Düften und Farben, die einen, je nach dem welcher Duft einem zugetragen wird und welche Farben man erblickt, gleichsam mit Freude und Leichtigkeit wie auch mit Wut und Trauer erfüllt.

Die Dame platziert ihren Koffer behutsam auf dem staubigen Dielenboden. Ihr Blick verweilt nicht lange an den reich beschmückten Wänden des Hauses. Sie wird noch genügend Zeit haben, jede einzelne Blume zu betrachten. Jeden einzelnen Duft in sich aufzunehmen. Jede einzelne Emotion zu fühlen. Sie ist hier um zu bleiben. Sie beugt sich hinab zu ihrem Koffer um ein kleines, in Seidenpaper eingewickeltes Bündel herauszuholen. Ihre Bewegungen sind so sanft und geschmeidig, es ist als würde sie tanzen. Sie war noch nie in diesem Haus, hat es noch nie betreten. Bis vor kurzem wusste sie noch nicht einmal von der puren Existenz des Hauses, und doch weiß sie genau was sie nun tut. Zielstrebig erklimmt sie die hölzernen Treppen. Ihr Blick schweift an den vielen Türen entlang, welche auf ihrem Weg liegen. Manche von ihnen sind, wie die Wände des Hauses, mit Blumen und Kränzen geschmückt, andere wirken fast kahl und trüb. Manche der Türen sind geschlossen, andere stehen offen, nur einen Spalt, oder ganz weit. Sie riskiert einen Blick hinter die geöffneten Türen, die Zimmer wirken unscheinbar, doch ihr Innerstes scheint lebendig. Mit jedem Raum in den sie blickt, wächst ihre Verbundenheit zu dem Haus. Dies kann ihr Zuhause werden. Sie wird sich wohlfühlen können. Zumindest für eine Weile. Beruhigt von dem Gedanken, dass das Haus langsam seine Fremdheit ablegen wird, setzt sie ihrem Weg fort. Ihr Ziel, das scheint sie selbst nicht zu kennen, doch ihre Beine tragen sie zielstrebig. Um eine weitere Ecke, eine weitere Treppe hinauf, dann eine andere Treppe hinab. Vorbei an vielen Räumen, jeder von ihnen birgt eine andere Welt, die es noch zu entdecken gilt. Bis sie schließlich vor einer unscheinbaren Türe steht. Das Zimmer, welches sich hinter der Türe verbirgt, ist ebenso unscheinbar. Ein Sessel, ein kleiner Tisch, eine Kommode mit zwei leeren Schubladen. Auf der Kommode eine kleine Vase, gläsern, schlicht. Darin jedoch verweilt eine kleine lila Blüte, die einen so intensiven, süßlichen Duft verbreitete, dass sich ganz ungewollt ein breites, lebendiges Lachen auf dem Gesicht der Dame ausbreitet. Sie kennt diesen Duft, hat ihn lange verloren geglaubt. Sie nähert sich der Blüte, lässt sich von ihrem Duft umhüllen, windet sich in diesem, hebt ab und scheint hoch über dem Haus zu schweben. Erst als der süße Duft ihre Lungen wieder verlässt und sie ihre Augen wieder aufschlägt, stehen ihre Füße wieder sicher auf dem festen Boden. Auch wenn es ihr schwerfällt, so lässt sie von der Blume ab und widmet sich dem kleinen Bündel in ihren Armen. Vorsichtig schlägt sie das Seidenpapier zurück und enthüllt drei kleine Gemälde, eingefasst in güldene Rahmen und von solch einer Schönheit, dass der betörende Duft der Blume für einen Moment nebensächlich wird. Sie ergreift den obersten Rahmen und platziert das Bild auf der Kommode vor sich. Das zweite findet seinen Platz über dem Sessel an der Wand. Das dritte Bild, das dritte Bild... Suchend wandert ihr Blick durch den kleinen Raum, doch er scheint nicht fündig zu werden. Leichten Schrittes geht sie auf den Sessel zu und lässt sich schwungvoll hineinfallen. Das dritte Bild verweilt noch immer in ihren Händen. Wie die anderen beiden Gemälde ebenfalls, zeigt auch dieses die Dame selbst. Es zeigt sie, wie sie mit strahlenden Augen und breitem Lächeln auf einer weiten Blumenwiese steht. Es zeigt sie, an dem Tag, an dem sie entschloss hierher zu kommen, an dem sie wusste, sie würde hier einziehen. Sie würde es sich hier gemütlich machen und eine Weile bleiben. Der Tag an dem ihr Glück sie fand und sie hierher verschlug. Auf der Wiese, in der sie einst saß, blühten hunderte und tausende der lila Blüten, wie auch eine auf der Kommode hinter ihr steht. Und der Duft dieser hunderten und tausenden von Blüten, diesen hatte sie fest in ihr Herz geschlossen. Sie würde nie vergessen wie es an diesem Tag duftete, sie würde nie vergessen wie sie den Duft der Blüten noch Tage und Wochen später in ihrer Kleidung riechen würde. Und sie hoffte nie zu vergessen wie sie sich fühlte, als sie diesem Duft, nach einer scheinbaren Ewigkeit, wieder begegnete. Nämlich in dem Moment, als sie dieses Zimmer betrat. Sie würde ihn nie vergessen, den Tag an dem sie in das Haus am Meer einzog. Mit diesem Gedanken platzierte sie auch das letzte Bild vor sich auf dem kleinen Tisch und betrachtete es noch lange.

Auch die Menschen in dem kleinen Dorf, würden den Tag an dem die schöne Fremde zu Besuch kam, wohl nie vergessen. Keiner wusste so genau, wo sie überhaupt hergekommen war. Keiner hatte sie gesehen, wie sie durch die Straßen des Dorfes strich oder den steilen Berg zum kleinen Haus erklomm. Und das obwohl alle Bewohner des Dorfes an diesem Tag ungeduldig in ihren Häusern saßen und gespannt die Nebenschwaden beobachteten, die sich ihren Weg durch die Straßen bahnten. Manche munkeln sie sei gar nicht vom Landesinneren angereist, sondern auf Seewegen zu ihnen gekommen. Sie sei auf einem kleinen Fischerboot an Land gekommen oder an Bord eines mächtigen Dampfers gereist. Der Wind hätte sie auf direktem Wege auf die hohen Klippen getragen oder sie sei eine Meerjungfrau, die aus den Tiefen des Ozeans zu ihnen gekommen sei. Woher sie kam, das wusste keiner. Doch was geschah, als sie das letzte Bild auf dem kleinen Tisch in dem verstecktesten Zimmer des Hauses platzierte, das wussten sie alle ganz genau. Es war, als würde sich der Himmel öffnen und als würde sich eine sommerliche Flut über das Dorf ergießen. Die Sonne wurde kräftig und stark, sie taute den Frost auf den Dächern, sie vertrieb den hartnäckigen Nebel aus den Straßen und lockte die Vögel aus ihren Verstecken. Es war der Tag, an dem der Sommer den rauen Winter für ein paar Stunden ablöste, und den Menschen einen Augusttag im Dezember bescherte. Die Kinder waren die ersten, die es bemerkten. Sie kamen aus ihren Betten und Häusern gekrochen, sahen sich auf den Straßen um, spürten die warme Sonne auf ihrer winterbleichen Haut, sie hörten die Vögel zwitschern und die Grillen zirpen. Ihr Zögern verwandelte sich schnell in unstillbare Freude. Sie kamen zusammen auf den Straßen des Dorfes um gemeinsam zum Meer zu rennen. Auch der Ozean wurde inzwischen von der strahlenden Sonne geweckt. Die Wellen waren zurückgekehrt und umspülten nun verspielte Kinderfüße mit ihrem erfrischenden Nass. Auch die Erwachsenen bemerkten die ungewöhnliche Wärme. Doch wie die Erwachsenen eben sind, so brauchten es noch eine ganze Weile, bis auch sie das Wunder annehmen und den schönsten Dezembersommertag genießen konnten, den das Dorf je erlebt hatte. 

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