1. Schneeregen

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Fluchend hetze ich die Stufen hinab. Nahm dabei immer zwei auf einmal und betete innerlich zu sämtlichen Göttern, die mir spontan in den Sinn kamen, nicht auszurutschen und mir sämtliche Kochen oder noch besser das Genick zu brechen. Und das alles nur, weil ich meinem Bruder versprochen hatte, ihn am ersten Adventswochenende zu besuchen und mit ihm den ersten Glühwein des Jahres zu genießen. Dieser stand vielleicht, oder vielleicht auch nicht bereits richtig angepisst am Stand des besagten Glühweinstandes und wartete seit einer geschlagenen halben Stunde beim feinsten Schneeregen auf mich.

In der Ferne vernahm ich das verräterische Quietschen der einfahrenden U-Bahn und beschleunigte ganz automatisch meinen Schritt. Schlängelte mich zwischen kommenden und gehenden Passanten hindurch im Wissen, dass ich es niemals rechtzeitig schaffen würde. Und doch gab ich nicht auf. Lief schneller und schneller. Keuchte. Rang nach Atem. Nur um plötzlich den Boden unter den Füßen zu verlieren.

Die Zeit, die gerade zuvor noch gegen mich gespielt hatte, mir quasi davon galoppiert war, verlangsamte sich ruckartig, schien fast schon stillzustehen, als mein Fuß auf der seifigen Oberfläche der Stufen ins Rutschen kam, dabei ins Leere trat und ich mich plötzlich im freien Fall befand.

„Nicht das auch noch!", dachte ich noch bei mir, schloss die Augen und wartete regelrecht auf den wenig sanften Aufprall, auf diesen bescheuert nassen und Schnee verschmierten Marmorstufen. Gott, wann war es eigentlich passiert, dass mein Leben so Scheiße geworden war? Zumindest in diesem Augenblick. Denn eigentlich liebte ich das alles. Liebte Christkindlmärkte. Liebte den Glühwein und liebte es, Zeit mit meinem Bruder zu verbringen. Doch seit ich mich vor Wochen, um genau zu sein vor fünfundsechzig Tagen und acht Stunden vor Josh getrennt hatte, ging alles der Berg hinunter. Mein Leben schien mir entglitten zu sein. Und urplötzlich hasste ich alles, was ich bis dato geliebt hatte, und befand mich nicht nur emotional förmlich im freien Fall.

Mit einem Ruck wurde ich plötzlich statt nach unten, in die Höhe gerissen und schlug erschrocken und überrascht zugleich meine Augen auf. Was zur Hölle?

„Hoppla", ertönte da auch schon eine dunkle, tiefe Stimme, die regelrecht durch meinen Körper vibrierte, dann auch schon ließe mich dieser feste Händedruck los. Tätschelte meine Schulter und keinen Augenblick später schlängelte sich der Kerl, der mich faktisch vor dem Fall bewahrt hatte, an mir vorbei und lief summend, als wäre nichts gewesen, die Treppe hinab.

Mit rasendem Herzen und nach Atem ringend, dabei ein leichtes Zittern in den Gliedern, starrte ich dem Mann hinterher, der mich gerettet hatte.

Er war groß. Wirkte riesig im Gegensatz zu meinen grade mal eins siebzig. Mit Schuhen. Dabei umspielte ein knielanger, schwarzer Mantel seine drahtige Gestalt. Die ebenfalls schwarzen Locken hingegen umrahmten seinen Kopf, auf dem große Kopfhörer thronten.

Und während ich so stand und starrte, gleichzeitig immer noch nicht verstand, wie mir geschah, entfernte er sich immer weiter. Dies schien den Zauber, oder besser gesagt den Schock, in dem ich mich zweifelsohne noch immer befand, zu durchbrechen. Denn auf einmal krachten sämtliche Eindrücke auf mich ein, wo grade noch gespenstische Stille geherrscht hatte.

Das flackernde Licht, der Gestank nach Nässe, Urin und Schweiß, die wiederkehrende Hektik und das Gerempl und Gefluche der vorbeilaufenden Menschen, denen ich jetzt, so mit auf der Treppe, im Wege stand. Und dennoch konnte ich alledem nichts abgewinnen, denn das einzige, an das ich denken konnte, waren diese großen, braunen Augen, die ich, wenn überhaupt, gerade mal eine Millisekunde lang gesehen hatte, bevor sie wieder verschwunden war.

Abermals ertönte ein Quietschen, und auch wenn mir eigentlich klar war, dass die Bahn ohne mich gefahren sein musste, sprintete ich erneut los, um wer weiß was, einzuholen.

Wie erwartet war die U-Bahn bereits gefahren und lediglich der leere Bahnsteig verspottete mich. Der und der Kerl von vorhin, der ganz gelassen, nach wie vor, vor sich hin summte. Die Augen geschlossen und mit dem in schwarzen, knöchelhohen Schnürboots steckendem Fuß den Takt eines Liedes mit tippte. Erneut ließ ich meinen Blick über ihn, über seine ganze Statur gleiten und musste unwillkürlich lächeln. Denn genau das tat auch er. Die Augen geschlossen, die Lippen amüsiert verzogen, schien er völlig in seine Welt getaucht zu sein.

Sollte ich hingehen? Sollte ich mich bedanken? Immerhin war sowas heut zutage nicht mehr selbstverständlich. Viele andere hätten mich einfach fallen lassen. Aber nicht er. Mein rettender Prinz sozusagen. Und doch klebte ich regelrecht am Boden fest. Verschmolz mit dem Matsch unter meinen Füßen und Begnügte mich damit, ihn aus der Ferne anzuhimmeln, mir dabei einredend, ihn nicht stören zu wollen. Ihn nicht rausreißen zu wollen, aus einer Welt, die ihn scheinbar wirklich glücklich zu machen schien.

Stattdessen beobachtete ich, wie die schönen schwarzen Löckchen, die ihm fast bis zu den Schultern reichten, im Takt auf und ab wippten. Und oh ja, er sah definitiv gut aus. Dieses lange, schmale, aber dafür kantige Gesicht. Die lange Nase, die darin ganz und gar nicht zu lang wirkte, sondern seinem Antlitz einen eleganten Touch verlieh. Dazu diese schmalen, aber dafür fein geschwungenen Lippen, die sich immer wieder öffneten und schlossen und sich ab und an zu einem Lächeln verzogen. Nur seine Augen, die blieben zu. Schade, denn eben jene hatten mich am meisten fasziniert.

Seufzend fuhr ich mir durchs Haar, welches feucht war und damit bestimmt völlig verstrubbelt wirkte. Zumindest jetzt erst recht, nachdem ich unbedacht darin herumgewühlt hatte. Von der Frisur, die ich mir daheim gezaubert hatte, war mit Sicherheit nichts geblieben. Bestimmt sah ich zum Fürchten aus. Nicht wie der Halbgott auf zwei Beinen mir gegenüber.

Gott, ich sollte echt langsam wegschauen, ermahnte ich mich selbst, und doch blieb mein Blick kontinuierlich an ihm hängen. Dieses Lächeln, diese langen Finger, die nun nach dem Gürtel seiner Umhängetasche griffen und sie zu Recht zogen. Diese Augen. Groß, braun, leuchtend!

Ich schluckte. Ich blinzelte. Verdammt auch, wann hatte er sie nur aufgeschlagen? War ich so vollauf in meine Betrachtung vertieft, dass es mir nicht aufgefallen war? Dann hob er einen Mundwinkel und grinste mir schief zu. Ganz kurz nur, bevor er sich abwandte, und in die U-Bahn stieg, die gerade eingefahren sein musste. Wann? Keine Ahnung. Ich hatte sie weder gehört noch gesehen. Stattdessen waren da diese großen, braunen Augen, von langen, schwarzen Wimpern umrandet. Gleich meinem liebsten Schokoladen-Kaffee-Sirup und auch wenn es verrückt war, so konnte ich allein beim Anblick auf ihm, den Geschmack auf meiner Zunge schmecken. Wie es wohl wäre, ihn zu küssen? Bittersüß? Heiß? Zartschmelzend?

Als er bereits eingestiegen war, blickte er sich noch einmal um, fragend, mich mit demselben schiefen Lächeln fragend musternd. Bevor er den Kopf schüttelte, ihn abwandte und weiter im Inneren der Bahn verschwand.

Erst das Rempeln eines ungehaltenen Mitmenschen riss mich aus meiner Starre. Herrgott nochmal! Was war nur los mit mir? Hatte ich mir bei meinem beinahe Sturz vielleicht doch den Kopf gestoßen? Ganz hart ... Das hier war immerhin meine Bahn, und die sollte ich schleunigst nehmen, bevor sie mir auch noch vor der Nase davon fuhr. Und so schlüpfte ich, nun selbst über mich den Kopf schüttelnd, durch die Türen. Keinen Augenblick zu früh, denn danach schlossen sie sich und die U-Bahn setzte sich ruckartig in Bewegung.

Statt mir aber wie üblich einen Platz zu suchen, setzten sich meine Beine ganz automatisch in Bewegung, und mein Blick hielt Ausschau nach meinem hübschen, unbekannten Retter.

Schnee ♡ ChaosWo Geschichten leben. Entdecke jetzt