Der Weg lag nur unscharf vor ihm. Immer wieder musste er kurz stehen bleiben, damit sich sein Blick klärte. Die Straße lag verlassen vor ihm. Keine Autos, keine Menschen. Nur er und die Dunkelheit der Stadt. Er öffnete den Mund, schloss ihn aber wieder. Er hatte allen Grund, vor Freude zu schreien, aber zurzeit konnte er nur weinen. Tränen liefen über seine Wangen. Tränen der Freude. Er wurde Vater!Seine Hand schloss sich Schnuller, den er schon die ganze Zeit behutsam in der Hand hielt. Als seine Freundin ihm damit die Neuigkeiten überreicht hatte, war er vor Freude durch die Wohnung gesprungen, hatte direkt all seine Freunde angerufen und die frohe Nachricht zu verkünden. Doch dann hatte er herausgemusst, raus aus der Situation. Er musste alleine sein, das Ganze verdauen. Sie hatte es verstanden, ihm geholfen, die Schlüssel zu suchen, die er immer verlegte. Er spürte sie in seiner Jackentasche, hörte das leise Klimpern, was die kleinen Fläschchen dadurch verursachten, die er eben gekauft hatte.
An der Bushaltestelle blieb er stehen, lehnte sich gegen die Schaufensterkante. Der nächste Bus kam erst in zwanzig Minuten, also hatte er die Haltestelle noch für sich. Liebevoll strich er über den Schnuller. Er würde tatsächlich Vater werden. Wieder kamen Tränen in ihm hoch. So lange hatten sie darauf gewartet, es immer wieder probiert. Jedes Mal, wenn die niederschmetternde Nachricht kam, dass es nicht geklappt hatte, hatte er sich dem Suff ergeben. Doch jetzt hatte sich alles verändert. Es hatte geklappt!
Behutsam legte er den Schnuller neben sich, damit er die Flaschen herausholen konnte. Er starrte sie an. Sein Fluch und Segen zugleich. Wäre er damals nicht in der Bar gewesen, hätte er sie nie kennengelernt. Doch er hatte Alkohol zu oft getrunken, damit seine Emotionen betäubt. Das sollte sich jetzt ändern. Denn er wurde Vater!
Er schüttelte den Kopf, öffnete beide Flaschen gleichzeitig. Dabei fiel ein Deckel herunter, doch es kümmerte ihn nicht. Kurz sah er sich um, doch er war noch immer alleine. Er haderte. Machte er das gerade wirklich? Ja! Er hatte es ihr versprochen und er stand zu seinem Wort.
Entschlossen kippte er beide Flaschen auf den Bürgersteig. Sah zu, wie der Alkohol sich ein Weg in die Ritzen des Bodens suchte. Ein seltsames Gefühl legte sich um ihn, als er dabei zusah. Er würde nie wieder trinken, das schwor er sich. Ihr zuliebe und für das ungeborene Kind. Sein Kind. Wahnsinn. Er schüttelte den Kopf, Tränen stiegen ihm wieder in die Augen.
Nur nebenbei sah er sich nach einem Mülleimer um, doch er fand keinen. Noch immer damit beschäftigt, nicht wieder vor Freude zu weinen, schloss er das eine Fläschchen und stellte sie an die Schaufensterwand. Er sah zu dem Schnuller, der dort ein bisschen verloren lag. Der Schnuller seines Kindes! Im selben Moment klingelte sein Handy. Sein Herz schlug ihm bis zum Halse, als er sah, dass es sein Bruder war. Sie hatten lange nicht mehr gesprochen und er würde sich wahrscheinlich genauso wie seine Freunde über die Nachricht freuen. Er stieß sich von der Kante und nahm den Anruf an.
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Ein Bild, eine Geschichte, drei Perspektiven, drei Emotionen
Short StoryZu dem Bild, das hier das Cover darstellt, habe ich drei kleine Kurzgeschichten geschrieben. Jeweils aus einem anderen Blickwinkel, mit einer anderen Stimmung. Dieses Bild erzählt so viel und doch konnte ich nur drei Seiten davon einfangen.