Fick dich, James Blake

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Vincent steigt müde in sein Auto. Er legt seinen Kopf auf dem Lenkrad ab und atmet kurz durch, bevor er sich eine Zigarette anzündet, das Fenster hochrollt und den Motor startet.
Mal wieder fährt er lustlos und teils betäubt die Straßen Ravensburgs entlang. Vincent kam gerade von einer seiner wirkungslosen Therapiestunden zurück, in welcher er schon wieder fast eingeschlafen wäre, da er es nachts nicht mehr kann. Seine Therapeutin versucht immer noch ihm irgendwelche Tipps und Drogen gegen Schlafstörungen anzudrehen, dabei hat er mit dem ausprobieren dieser schon längst aufgehört. Das Antidepressivum hatte er schon ohne seine Therapeutin darüber zu informieren abgesetzt. Das bringt eh nichts.
Nach jedem therapeutischem Gespräch fühlt Vincent sich noch schlechter als zuvor. Am liebsten würde er garnicht mehr hingehen. Garnicht über seine Probleme sprechen. Nichtmal darüber schreiben möchte er mehr. Nichts würde er lieber als einfach für immer alles Geschehene verdrängen. Doch wenn er nicht mehr hingehen würde, würden alle nur noch mehr Fragen stellen. Sich noch mehr Sorgen um ihn machen. Warum auch immer. Das Besorgnis anderer Leute ist er doch sowieso nicht Wert. Nichts, garnichts ist er wert, so wie er geworden ist.
Vincent war mal dieser wunderschöne, lebensfrohe Junge der jeden nur durch seine Anwesenheit besser fühlen lassen konnte. Er strahlte heller, viel, viel heller als die Sonne es sich jemals hätte wünschen können. Und jetzt? Jetzt ist alles was man sieht, wenn man ihn anschaut einfach nur leer. Sein Blick, seine Gefühle, seine Ausstrahlung, erloschen. Seine einst Farbenfrohe Welt nun grau.

Ein lautes vibrieren weckt Vincent aus seinen negativen Gedanken.
"Lia" steht auf dem Display seines Handys.
Lange überlegt er, bevor er rangeht.
"Hallo?" Es ertönt eine zittrige, hohe Stimme aus Vincent's Handy.
"Hm?"
"Hast du grad Zeit?"
"Bin im Auto."
"Wo warst du?"
"Familie."
Er könnte niemals zugeben, dass er zur Therapie geht. Erst recht nicht ihr. Sie ist ja schließlich Schuld an alledem.
Sie hat diesen glücklichen Vincent von damals getötet.
"Vincent, es tut mir leid..."
"Okay."
"Okay?"
"Okay."
"Schatz, wir...wir kriegen das doch wieder hin... Ich ändere mich."
"Nenn mich nicht so."
"...Tut mir leid."
Vincent lacht auf, dabei findet er es alles andere als lustig. Er lacht nur noch aus Schmerz.
"Ja, so wie dir alles andere leid getan hat. Und ich dir jedes Mal verziehen hab. Schon klar."
"Vinnie..."
Er legt ohne sich noch die Mühe um eine Antwort zu machen auf, parkt sein Auto und geht in seine Wohnung.
Diese drecks Wohnung.
Wie jedes Mal wirft er sich auf sein Bett und zieht seine Kopfhörer auf.
Das Telefonat hat mehr Wunden in ihm aufgerissen als er sich selbst eingestehen will.
Vincent hört sich seine bis aufs Blut gehassten Lieblingslieder von James Blake an. Nicht lange dauert es bis ihm die ersten kleinen Wassertropfen die Wangen herunter perlen. Und noch schneller werden diese Tropfen mehr, und mehr, und mehr.
Endlich erlaubt er sich, Trauer zu empfinden.
Er lässt alles heraus das er nicht seiner Therapeutin, nicht seiner Mama, Nicht Leon, Robin oder Mosse und sowieso nicht Lia erzählen kann.
Für einen kurzen Moment spürt er sein Herz ein kleines Stück mehr brechen.
So sitzt er da, weinend mit seinen Kopfhörern auf, auf dem Bett, alleine, verzweifelt, hilflos.
"Fick dich, James Blake. Fick dich."

Floating

Eine Woche später

"Herrn Waizenegger, wie fühlen sie sich heute?"
Vincent zuckt mit den Schultern.
"Wie immer, Keine Ahnung."
"Mhm, gibt es diesmal etwas, worüber sie sprechen wollen?"
"Lia hat mich angerufen."
"Lia hat sie angerufen. Sind sie rangegangen?"
"Ja..."
"Was wollte sie von ihnen?"
"Sie hat sich entschuldigt. Sie meinte, sie würde sich ändern."
"Okay, und was haben sie da gefühlt?"
"Was soll ich da wohl gefühlt haben? Seid das mit ihr passiert ist ist alles scheiße. Da wird auch eine weitere von ihren falschen Entschuldigungen nichts mehr ändern! Und ihre Versprechungen hab ich sowieso satt."
Vincents Therapeutin schreibt etwas auf.
"Herrn Waizenegger, nehmen sie denn noch ihre Antidepressiva?"
"..Ja"
"Sicher?"
"Okay, nein. Das Zeug bringt doch eh nichts."
"Ich kann ihnen nicht helfen, wenn sie keine Hilfe annehmen wollen. Sie müssen Kooperieren wenn sie wollen, dass es ihnen besser geht."
Statt zu antworten schaut Vincent herunter auf seine Finger und spielt mit seinen Ringen.
"Wollen sie denn, dass ihnen geholfen wird?"
"Mir kann keiner helfen."
"Wünschen sie sich, dass es jemand könnte?"
"Ich weiß es nicht."
"Vermissen sie ihr altes Ich denn nicht? Der, der seine Songs geschrieben hat um mit seinen Gefühlen umzugehen und der sich doch so auf seine Auftritte gefreut hat? Der, der immer Spaß am Leben hatte?"
Vincent schaut der Frau in die Augen.
"Doch... Ich schreibe wieder."
"Tun sie?"
"Ja, ich hab wieder einen Song geschrieben, als Lia mich angerufen hat."
Erneut schreibt sie etwas auf.
"Und, wie haben sie sich gefühlt?"
"Gut... naja, so gut wie es momentan eben geht. Es hat ein wenig geholfen. Ich hab es vermisst."
Die blonde Frau lehnt sich etwas zu Vincent vor und schaut ihm in die Augen.
"Das haben sie gut gemacht, Herrn Waizenegger, das ist der richtige Weg. Bitte, sprechen sie mit jemandem dem sie vertrauen. Ich weiß, sie wollen nicht über die Vergangenheit nachdenken, aber wunden können nicht heilen wenn man sie vernachlässigt."
In diesem Moment hat etwas, wenn auch ganz leise und winzig in Vincent klick gemacht.
"Okay...Ich..Ich kann es versuchen."
Sie nickt.
"Sie machen Fortschritte, sie können stolz auf sich sein. Damit wäre unsere Zeit für heute auch schon vorbei, sie haben meine Nummer."
"Ja, Dankeschön..."
"Dafür bin ich da. Ach, und Herrn Waizenegger?"
"Ja?"
"Nehmen sie ihre Antidepressiva. Geben sie ihnen wenigstens nochmal eine zweite Chance."
Vincent nickt, verabschiedet sich und verlässt den Raum, steigt in sein Auto. Wie nach jeder Stunde greift er nach seiner Zigarettenschachtel und macht sich eine Kippe an.
Er zögert und nimmt sich dann doch sein Handy.

F*ck dich, James BlakeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt