Gottes Würfel

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»Man könnte vermuten die Chancen stehen 50:50. Doch das ist Unsinn. Man muss immer stehen bleiben.«
Quentin rutschte auf der Bank hin und her. Er zog seine steifen Beine enger an sich und schielte misstrauisch auf den Boden. Es war nicht so, dass er dem Kraftfeld nicht traute, dennoch weigerten sich seine Füße auf einen Boden zu stehen, den er nicht sehen konnte.
»Darauf kommt es doch überhaupt nicht an,« murmelte er und sah zu Sal hinüber.
Sal saß, die Ellenbogen auf die Knie gestützt, über seinen Fetzen Papier gebeugt. Seine Füße standen fest auf dem Boden. »Ich habe alles ausgerechnet.«
Quentin hielt sich mit seinem Blick an Sals Füßen fest, die über dem Nichts zu schweben schienen. Unter ihnen erstreckte sich der Planet, um den sich die Wolkenbänder wie Bandagen um einen Verletzten wickelten.
Die Fanfare riss Quentin aus seinen Gedanken und kündigte den nächsten Kandidaten an. Auch ihm sagte der Prete wieder seine Worte und stellte wieder seine Frage.
»Gott!«, rief der Kandidat und machte den ersten Schritt auf die Brücke.
Neben Quentin schnaubte Sal und warf sich nach hinten an die harte Holzlehne. »Vollidiot!«, flüsterte er. »Allesamt sind sie Idioten. Da gäbe es wesentlich bessere Wörter.« Sal faltete seinen Zettel auf, warf einen Blick darauf und faltete ihn direkt wieder zu.
Quentin richtete seine Aufmerksamkeit auf die Bühne. Wie immer galt es, dem eigenen Seelenheil zuliebe Sals Geschwätz zu ignorieren. Der Bildschirm auf der Bühne wurde schwarz.
»Sein!«, rief der Prete während sich die Buchstaben langsam auf dem Bildschirm in weiß materialisierten. Das Publikum applaudierte. Quentin klatschte stumm seine Finger aufeinander, denn er konnte seine Beine nicht loslassen, da sie sonst womöglich von der schmalen Bank runtergerutscht wären. Sal war in seinen Zettel vertieft, als der Kandidat einen Schritt nach vorne machte und das nächste Brückenglied betrat.
»Und!«, rief der Prete als nächstes. Quentin starrte auf den Bildschirm. Wie bei den Kandidaten zuvor hatte er versucht, das Wort noch vor dem Prete zu lesen. Doch hatte es nicht geschafft. Das Publikum applaudierte wieder, als der Kandidat einen weiteren Schritt gehen durfte. Sal beugte sich zu Quentin hinüber. »Das ist reine Wahrscheinlichkeit. Ich habe alle bisherigen Prüfungen ausgewertet und analysiert. Es geht um die Häufigkeit der einzelnen Wörter in der Offenbarung. Die meisten nehmen Gott und hoffen damit auf eine Gnade. Darum geht es aber hier nicht. «
»Der letzte ist mit dem Wort Gott aber über die Brücke rübergekommen.«
»Das liegt daran, dass die letzten zwei Bücher der Offenbarung, um die es laut meinen Recherchen geht, aus 1.178 Wörtern bestehen. Das Wort Gott kommt 12 Mal vor. Die Chance, dass der Zufallsgenerator es ausspuckt und sich das Kraftfeld des Brückengliedes abschaltet, ist also recht gering. Dennoch wäre es klug ein Wort zu wählen dass lediglich einmal vorkommt. Sowas wie Monat, Feuer oder Norden. Dann stünden die Chancen bei jedem Brückenglied 1:1.178. Und das sieben mal? Das ist ziemlich gut.«
Quentin hatte den Atem angehalten, als sein Freund Gottes Willen als Zufallsgenerator bezeichnet hatte und versuchte jetzt leise, ohne das jemand etwas davon merken würde, weiterzuatmen. Aber Sal merkte es natürlich und schaute ihn mit einem herablassend mitleidigen Blick an. Als Quentin diesem Blick, den er nur zu gut kannte, auswich, schaute er aus Versehen unter sich in den Abgrund. Er presste die Augen zu. Zehn Vaterunser dürften ihn beruhigen.

Erneut riss ihn die Fanfare ins Hier und Jetzt zurück. Der Kandidat hatte die Brücke erfolgreich überquert und stand jetzt vor den drei Plattformen.
Quentin versuchte sich nicht vorzustellen, was in dem Kandidaten vor sich ging, als er eine der Plattformen wählte. Der Kandidat stellte sich auf die linke der Dreien und schloss die Augen. In seinem Gesicht konnte Quentin weder Angst noch Zorn erkennen. Er war ein guter Christ. Er würde durchkommen. Der Prete nickte und zeigte mit der Hand auf die mittlere Plattform. Ein grünes Flackern verriet, dass ihr Kraftfeld stabil war.
Der Applaus des Publikums ließ den Kandidaten seine Augen wieder öffnen. Der Prete machte ihm nun das Angebot, die Plattform nochmal zu wechseln. Dieser Teil wurde immer in die Länge gezogen. Quentin hasste das. Es kam ihm vor, wie ein billiger Trick, um die Prüfung für das Publikum unterhaltsamer zu gestalten. Und so beugte sich Quentin zu Sal hinüber. »Aber jetzt sind die Chancen doch 50:50.«
Aufgeregt über das Interesse von Quentin rutschte Sal zu ihm herüber und faltete wieder seinen Zettel auf. »Falsch. Anfangs waren es drei Plattformen, von denen eine in den Tod führt. Die Chance, eine der richtigen zu wählen liegt also bei 66%. Der Prete hat eine eliminiert, die sicher war. Jetzt sind nur noch zwei Plattformen zur Auswahl. Wenn er sich jetzt entscheidet steht seine Chance zu überleben bei 50%. Er sollte also stehen bleiben und bei seiner ersten Entscheidung bleiben.«
»Aber indem er stehen bleibt entscheidet er sich doch.«
Sal ignorierte Quentins Einwand. »Und nicht nur das, nach meinen Analysen zufolge weiß der Prete, welche der Plattformen in den Tod führt. Er eliminiert also immer eine, die sicher ist. Und wenn der Kandidat bereits auf einer sicheren steht, zwingt er den Preten damit, eine bestimmte zu eliminieren, nämlich die verbleibende sichere. Das erhöht nochmal die Chance des Kandidaten, wenn er stehen bleibt.«
Quentin ließ seine Ohren rauschen und versuchte damit Sal zu auszublenden. Er bereute es, Sal nochmal darauf angesprochen zu haben, denn sicherlich war es Sünde, alleine dem allen zuzuhören.
Auf der Bühne hatte sich der Kandidat inzwischen entschieden. Er blieb auf seiner Plattform stehen. Der Prete streckte seinen Arm auf die Plattform aus, um ihre Natur zu enthüllen. Wieder hatte der Kandidat seine Augen geschlossen. Er war ein guter Christ. Er würde durchkommen. Nichts passierte. Und mit einem Mal da fiel er. Das Publikum machte einen erschrockenen Laut. Sal beugte sich wieder zu Quentin und flüsterte: »Natürlich sind das alles nur Wahrscheinlichkeiten. Und der einzelne Moment interessiert sich nicht für Wahrscheinlichkeiten.«
»Es ist Gott, der sich nicht für Wahrscheinlichkeiten interessiert.«
Sal legte seine Hand auf Quentins Schulter und sah ihm zum ersten Mal an diesem Abend in die Augen. »Glaub mir.«
In diesem Moment vibrierte Quentins Armband. Er sah zu Sal, der es auch bemerkt hatte. Ohne nach unten zu blicken, stellte Quentin seine Füße auf den Boden und stand auf.
»Viel Glück«, sagte Sal.
Die Fanfare tönte als Quentin auf die Bühne trat und der Prete nahm ihn mit offenen Armen in Empfang. Er sprach mit seiner monotonen Stimme, die hier, als er direkt vor ihm stand, nicht lauter war als auf den Bänken der Gemeinde.
»Quentin Oran.«
Quentin nickte.
»Du wirst der Sünde beschuldigt. Die Sünde lautet wie folgt: Dein Vater, Willem Oran, hat den Namen Gottes missbraucht. Die Anschuldigung: Blasphemie. Deine Anschuldigung: Du bist der Sohn des Mannes. Daher wirst du nun auf die Probe gestellt, damit wir den Willen Gottes über dich kennen.«
Seine Mutter war als Frau direkt exekutiert worden. Er als Mann hatte immerhin die Chance auf Gottes Gnade. Er war bereit.
»Welches Wort aus der Offenbarung soll dir Gottes Gnade auf der Brücke sein?«
Quentin blickte hinüber in die Gemeinde. Sal nickt ihm aufmunternd zu.
»Gott«, sagte Quentin leise in der Hoffnung, das Sal ihn nicht hörte.
Das Überqueren der Brücke erlebte Quentin wie in einem Rausch. Der Prete sagte Wörter, das Publikum klatschte, Quentin ging einen Schritt nach vorne. Er achtete nicht, auf das was der Prete sagte sondern fragte sich nur, was das Publikum jetzt in seinem Gesicht lesen könnte.
Als Quentin die Brücke überquert hatte ging er zielsicher auf die linke Plattform zu und stellte sich darauf. Natürlich hatte sich die Natur der Plattformen zum letzten Durchgang geändert. Dennoch kam es ihm mutig vor, die Plattform zu wählen, deren Kraftfeld sich gerade geöffnet hatte. Und Mut konnte Gott womöglich beeindrucken. Er drehte sich zum Publikum um, weil das bisher alle vor ihm so getan hatten. Er konnte nicht nach unten in den Abgrund schauen, er wollte nicht ins Publikum schauen aus Angst, er könnte Sals Blick treffen und den Prete wollte er ebenfalls nicht anschauen. Also schloss er die Augen. Und atmete. Er hörte erst ein leises Zischen und dann den Applaus des Publikums. Er wusste was geschehen war. Kein Grund die Augen zu öffnen. Er wusste, das Sal nervös seinen Zettel auf und zuklappte. Dass der Prete auf ihn zu kam um ihm anzubieten, die Plattform nochmal zu wechseln. Doch Quentin stand fest auf dem unsichtbaren Boden. Die Augen fest verschlossen. Er schüttelte den Kopf auf die Fragen des Prete. Er hörte, wie das Publikum verstummte. Ich bin ein guter Christ. Gott weiß das. Nichts geschah. Er wartete. Und dann hörte er ein leises Zischen und diesmal lauter, den Applaus des Publikums. Ein Klatschen hörte er heraus. Lauter und schneller als das Klatschen aller anderen. Sal.
Quentin öffnete die Augen. Der Prete stand vor ihm und zog ihn an den Schultern von der Plattform hinunter zu sich. »Die letzte Prüfung findet unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt.« Er ließ sich zu einer Tür am Rande der Bühne führen, durch die alle, die es bis hierher geschafft hatten, schreiten durften. Quentin warf einen letzten Blick zurück ins Publikum. Sal zeigte ihm mit einem traurigen Lächeln beide Daumen nach oben. Es war ein Abschied für immer.
Während das Publikum nach der Show mit den Shuttles wieder auf die Erde zurückkehrte, blieben diejenigen, die die letzte Prüfung bestanden an Bord der Kathedrale. Hier oben, in der größtmöglichen Nähe zu Gott, wartete auf sie ein Leben in der Bruderschaft. Quentin war bereit dazu.
Hinter der Tür lag ein kleiner Raum, in dem die drei Männer, die heute vor ihm die Prüfungen bestanden hatten, warteten. Sie saßen auf Holzstühlen, die an den Wänden entlang standen. Am anderen Ende des Raumes war eine weitere Tür. Auch hier bestand der Boden nur aus dem unsichtbaren Kraftfeld. Aber daran würde er sich gewöhnen. Er würde ein guter Ordensbruder werden. Er wusste nicht was er sagen sollte, also nickte er den Männern nur zu und setzte sich ebenfalls. In dem kleinen Raum waren die Geräusche aus dem Saal zu hören. Der Prete beendete den Gottesdienst und entließ die Gemeinde. Nach einer Pause öffnete sich die Türe und er betrat den Raum. Wortlos ging er geradeaus auf die andere Türe zu, die er mit einem Schlüssel öffnete. Mit einer Handbewegung bedeutete er den Männern ihm zu folgen Der Raum, in den sie traten, war riesig. Er wirkte unendlich hoch, da hier nicht nur der Boden aus Kraftfeld bestand, sondern auch die Decke. In der Mitte lag ein massiver Felsen, groß wie drei Shuttles. Quentin verbeugte sich unwillkürlich. Das Zeichen Gottes. Auch hier waren an der Wand ringsherum Stühle aufgestellt. Auf manchen saßen Männer, abgemagert und ungepflegt. Was war das für ein Ort? Der Prete blieb stehen und drehte sich zu den Neuankömmlingen um. Quentin meinte ein Lächeln in seinem Gesicht zu erkennen. Aber das war kaum möglich. Der Prete hatte ein Gelübde abgelegt.
»Dieser Fels ist die Verkörperung des Willen Gottes. Ihr werdet in diesem Raum warten. Warten und beten. Wenn Gott will, wird der Feld zerspringen. Damit zeigt er, dass ihr seine Vergebung verdient habt und ihr werdet in die Kathedrale als ebenbürtige Brüder aufgenommen.« Der Prete ging zurück zur Tür.
»Aber das ist unmöglich«, sagte einer der Männer, die mit Quentin hereingekommen waren.
»Für Gott ist nichts unmöglich«, antwortete der Prete und schloss die Türe hinter sich.
Quentin setzte sich auf einen der Stühle. Er dachte an Sal. Sal, der so auf seine Wahrscheinlichkeiten versteift war, wäre verzweifelt. Doch Quentin hatte den Glauben. Gott vergab ihm entweder oder vergab ihm nicht. Das ergab eine Chance von 50:50. Für ihn bestand Hoffnung. Und er begann zu beten.


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