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Jeder von uns kam schon einmal in den Genuss einer richtig, richtig guten Freundschaft. Ein richtig, richtig guter Freund ist jemand, dem man (fast) alles erzählt, dem man eine gute Note gönnt, auch wenn die eigene schlechter ist und mit dem man eine Pizza teilt, ohne dass der andere überhaupt nach einem Stück fragen muss. Es sind Menschen, die einen ganz besonderen Platz in unserem Herzen einnehmen. Manchmal stehen sie uns sogar näher als unsere eigene Familie.

Ihr könnt euch darum vielleicht auch vorstellen, wie es sich anfühlt, einen richtig, richtig guten Freund zu verlieren. Es gibt viele Gründe dafür: Ein Umzug, ein Wechsel in zwei verschiedene Klassen oder, dass man sich plötzlich einfach nicht mehr für dieselben Dinge interessiert. Doch die schlimmste Art, einen richtig, richtig guten Freund zu verlieren, ist ein Zerwürfnis. Ein Zerwürfnis ist eine bitterernste Streitigkeit, von der sich auch die beste Freundschaft nie mehr erholt.

Darum ist es kaum verwunderlich, dass sich Hein Bakker am letzten Schultag vor den Sommerferien geschockt und zutiefst erschüttert nach Hause schleppte. Zuhause war – zumindest in Heins Fall – ein schmales Gebäude, eingequetscht zwischen einem Tulpenfachgeschäft und einer Käserei, das am Rande einer mittelkleinen Stadt in den Niederlanden stand. Die Niederlanden ihrerseits liegen zwischen Deutschland und der Nordsee, es gibt dort viele Brücken und Windmühlen und Fahrräder und elfeinhalb Millionen Menschen, die sich hauptsächlich von Gouda ernähren. Das ist ein Käse, den sie dort selbst erfunden haben.

Für gewöhnlich fuhr Hein mit seinem richtig, richtig guten Freund nach Hause. An diesem Tag jedoch war er allein und über diesen Umstand so unglücklich, dass er sich zum Radfahren nicht imstande sah und lieber schob.

Allein zu sein – besonders dann, wenn man gerade ein aufwühlendes Erlebnis hinter sich hat – wirft Fragen auf. Bisher hatte Hein zum Beispiel das Gefühl gehabt, ein ziemlich gutes Leben zu führen, wahrscheinlich sogar ein sehr gutes. Aber die jüngsten Ereignisse – angeführt von dem Verschwinden seines Vaters, über den Auszug seines Bruders, bis hin zum Zerwürfnis mit seinem allerbesten Freund – ließen ihn diese Sicht auf die Dinge überdenken.

Diejenigen von euch, die bereits Erfahrungen mit solchen ernsten Gedanken haben, wissen vielleicht, dass sie auf den ersten Blick meist bedrückender erscheinen, als sie es tatsächlich sind. Vermutlich wisst ihr dann auch, dass es selten klug ist, drastische Entscheidungen zu treffen, wenn man aufgewühlt und niedergeschlagen und allein ist.

Für Hein war es aber das erste Mal, dass er sich um solche Dinge Gedanken machen musste. Und es war natürlich nicht leicht. Er konnte weder Schuldzuweisen, noch Schmollen und in Selbstmitleid versinken, war auch keine Option. Warum, fragt ihr euch? Weil er eben Schuld hatte. Hein war sicher, dass es ihn von beiden als den Schuldigen schlechter erwischte. Und dass es sich zusätzlich um einen Umstand handelte, der ihn unbedingt zum Handeln zwang.

Während er die Haustür aufschloss und seine Schultasche in den Flur legte, manifestierte sich ein Plan in seinem Kopf. Er reifte aus, als er seine Kappe auf die Kommode legte und die Schuhe ins Regal stellte. Und als er schließlich aus dem Flur in die Wohnung trat, war er fest entschlossen.

Seine Mutter saß auf einem Sessel vor dem Fenster und las in einem dicken Buch auf ihrem Schoß. Sie war schon nicht mehr jung gewesen, als sie Hein bekommen hatte; neun Jahre später waren die Lachfältchen um ihre Augen tief und das Haar ergraut.

„Ich werde nicht mehr in die Schule gehen", stellte Hein fest. Er hatte die Arme vor der schmalen Brust verschränkt.

Seine Mutter sah ihn überrascht an. „Wieso nicht?"

„Das kann ich nicht sagen", antwortete Hein ernst.

„Wenn du mir nicht sagst, weswegen du nicht zur Schule gehen möchtest, kann ich dir bei deinem Problem aber nicht helfen."

FatherWo Geschichten leben. Entdecke jetzt