Betrunken - Dorsteinn Weiss

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Erwin stieg aus dem Zug. Für Februar war es angenehm warm. Die Bergspitzen lagen entfernt im Dunst und auf ihnen lag ein kümmerlicher Rest von Schnee. Es zog ihn nicht nach Hause. Erwin lebte allein und so hatte er daheim nichts, was auf ihn wartete. Er wandte sich nach Süden, um einen Spaziergang zu unternehmen. Als er dahinschritt, sah er eine Frau, die in einer Hand eine Bierdose hielt und sich mit der anderen an einem Abfalleimer abstütze. Sie war offensichtlich stark betrunken und sah nicht sehr glücklich aus. In Erwin stieg eine Mischung aus Mitleid und Abscheu hoch. Als er an ihr vorbeiging, zerdrückte sie die Bierdose und warf sie in den Müll.

Erwin schritt einer Wiese entlang. Es blühte noch nichts, die Landschaft lag karg im Dunst und leichtes Sonnenlicht schien auf ihn nieder. Die betrunkene Frau war rasch vergessen und Erwin hing Gedanken nach. Der Spaziergang ödete ihn auf einmal an, doch jetzt umzudrehen und denselben Weg zurückzugehen half dem nicht ab. Vielleicht war es gar nicht nur der Spaziergang, sondern sein Leben, das ihn auf eine sonderbare Art anödete. Er wollte nicht nach Hause, nicht in den Alltag zurück, er wollte nichts. So setzte er seinen Spaziergang lustlos fort, ging an Häusern vorbei, einem Bächlein entlang und traf dann auf die Hauptstrasse. Den Gehsteig entlangspazierend erblickte Erwin auf einmal eine wankende Gestalt. Die betrunkene Frau kam auf ihn zu. Erwin musterte sie kritisch und der leichte Abscheu stieg wieder in ihm hoch. Als er der Frau näherkam, sprach sie ihn zu seinem Erstaunen an.
«Schönen Sonntag!», meinte sie.
«Schönen Sonntag.», erwiderte Erwin im Vorbeigehen.
Der Abscheu verflog sofort und auf einmal empfand Erwin leichte Scham.
«Ich habe dieser Frau Unrecht getan.», sagte Erwin zu sich selbst. «Ich dachte schlecht von ihr, doch weiss ich gar nicht, was in ihrem Leben vorgeht. Vielleicht kämpft sie mit tiefer Trauer und hat kein Ventil dafür.»
Er hielt inne und wandte sich um. Die Frau wankte noch stärker als zuvor und auf einmal fing Erwin an, sich Sorgen zu machen.
«Hoffentlich stürzt die Frau nicht auf die Strasse.», dachte er.
Die Wagen, welche an ihr vorbeifuhren, machten einen Bogen um sie. Die Betrunkene erreichte den Fussgängerstreifen und machte Anstalten, diesen zu überqueren. Erwin sah dem Schauspiel aus der Ferne zu. Seine Befürchtungen bestätigten sich, denn die Frau fing zu taumeln an. Sie hatte sich fast fangen können, doch dann fiel sie mit einem erschreckenden Knall auf die Strasse. Erwin wollte sich schon schicken, ihr zu helfen, doch dann sah er, wie mehrere Autos um die Kurve und auf die Frau zu brausten. Nach einem kurzen Schreck stellte er fest, dass die Wagen bremsten. Die Frau lag noch mitten auf dem Asphalt und versuchte verzweifelt auf allen Vieren an den Rand zu kriechen. Aus einem der Wagen stieg eine blonde Dame und erkundigte sich, was vor sich ginge. Da stieg aus dem Hinteren Wagen bereits ein älteres Paar, das sich bereiterklärte, die betrunkene Frau nach Hause zu begleiten. Einen Moment lang blieb Erwin noch stehen. Als er Gewissheit hatte, dass die Betrunkene nach Hause geleitet würde, drehte er sich wieder um und spazierte weiter. Dieses Mal vergass er sie jedoch nicht mehr so schnell. Er wusste nichts über diese Frau, doch tat sie ihm leid. Zum Glück war sie nicht auf den Kopf gefallen, doch würde sie wohl noch blaue Flecken von dem Sturz davontragen. Das hatte sie nicht verdient. Erwin wusste nicht, wieso sie sich betrunken hatte, doch vermutete er, es sei zur Verdrängung gewesen. Doch wie traurig musste ihr Leben sein, dass so viel Alkohol vonnöten war? Auf einmal empfand er Dankbarkeit. Sein ödes Leben schien auf einmal sehr gut. Er hatte alles, was er brauchte, lebte in Sicherheit und war gesund. Seine Heiterkeit stieg an und ohne nachzudenken, fing er zu pfeifen an. Er schritt nach Hause und war zufrieden.

Am Abend fand sich Erwin in der Unzufriedenheit wieder. Er fühlte sich antriebslos und nicht bereit dafür, am kommenden Morgen wieder in den Alltag zurückzukehren. Es ödete ihn schon wieder an, als er auf einmal wieder an die Frau vom Nachmittag denken musste. Er realisierte, dass ihn vielleicht gar nicht so viel von ihr unterschied. Am Ende des Tages waren sie beide nur Menschen, die irgendwie ihren Alltag zu bewältigen suchten. Er bereute es, schlecht von der Frau gedacht zu haben. Sie hatte das nicht verdient. Viel eher gebührte ihr Mitgefühl.
Erwin dachte nach und beruhigte seine negativen Gedanken. Er betete für die Frau, dass es ihr gut gehen möge, und auch für sich selbst betete er. Nie wollte er es so weit kommen lassen. So fand er wieder ein wenig Motivation an sich zu arbeiten und glücklich zu sein, nicht wegen äusserer Umstände, sondern weil er glücklich sein wollte und das wichtiger war. Er hob seinen Kopf und schenkte sich selbst ein Lächeln.


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⏰ Letzte Aktualisierung: Feb 19 ⏰

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