Lagunenaugen

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Der Morgen begann frostig, vor einigen Tagen war ein kalter Wind vom Festland her aufgezogen der heftige Regenschauer und Böen ankündete. Als Venezianer war Serafin die heftigen Überschwemmungen, die die verlässlich zu Anbruch der Winterzeit einbrachen, so gewöhnt, dass er sich nicht einmal die Mühe machte sich noch darüber aufregen. Lächeln und mit Leichtmut durch das Leben gehen hieß die Parole der Lagunenbewohner, die -zu Recht- stolz darauf waren, jeglichen Unwettern zu trotzen. Doch noch waren die Regenschauer nicht in Sicht und der Tag war kalt und klar. Serafin drängte sich durch die aufkommende Schaar an Händlern und zunehmenden Marktbesuchern und schlug den Kragen seines Umhangs nach oben. Die starrenden Blicke anderer konnte er nicht leiden, überhaupt konnte er nichts so wenig leiden wie das Offensichtliche. Interessant war immer das, was die Leute nicht sagten, was sie nur dachten. Unausgesprochene Wörter waren, die die es die Mühe wert waren, gehört zu werden. Das Ungehörte gehört zu machen. Geheimnisse machten die Menschen interessanter, ihre Seelen lebendiger und er war bereit jedes einzelne Geheimnis auf dieser Welt zu hören. Sie zu inhalieren, und nie wieder hinaus an die Ohren anderer Menschen lassen. Sie zu sammeln. Wörter, die keiner hören konnte, die keiner aussprach, verdienten es geschrieben zu werden. Er bog in eine weitere Gasse, die noch unberührt vor dem morgendlichen Ansturm war und folgte dem Verlauf des Kanals der anfangs noch breit und gut ausgebaut zunehmend schmäler und enger wurde. Das Licht wurde fahlen, hier in die engsten Winkel der Gassen drang der Sonnenschein nur noch kläglich und durch schmale Ritzen hindurch und schwand schließlich ganz. Wäscheleinen die hoch über seinem Kopf gespannt waren wogen im eisigen Wind leicht hin und her. Die Luft roch modrig und feucht, die alten Häuser waren heruntergekommen, und über die Jahre hinweg unbewohnt hatten die Scheiben tiefe Sprünge und die Holztüren waren vom stetigen Salz des Meerwassers ausgefressen und verrottet. Serafin rückte seinen durch die Jahre ausgebleichten Umhang zurecht, der Leinenstoff seiner Hose schlotterte zerfranst um seine Knöchel, zu kalt für diese Jahreszeit doch bis auf die Kleider, die er am eigenen Leibe trug, besaß er nichtmehr viel. Die Luft, die vom Kanal heraufzog, war muffig, es stank nach verwesten Lebensmitteln, Rattenkot und vielem mehr. Der Abwasserkanal der Stadt zog sich durch den hinteren Stadtteil der gänzlich heruntergekommen und nur spärlich bewohnt von den Besuchern und Einwohnern der Lagunenstadt gemieden wurde. Die Häuser waren hoch, die Gassen schmal. Sonnenlicht drang hier kaum und nur zu den heißesten Stunden des Tages gelegentlich kurz hindurch. Die Bewohner waren allesamt Stadtstreicher, Obdachlose. Heimatlose, viele Kinder und Jugendliche so wie er. Sie stahlen um zu überleben. Einige plünderten auch. Doch die Machtkämpfe der Gilde waren nicht mehr seine Sache, früher als er noch ein schmächtiger Jüngling gewesen war und durch jede Ritze gepasst hatte, war es seine Aufgabe gewesen als Meisterdieb in die Häuser der Reichen und Mächtigen einzusteigen und er hatte sich einen Spaß daraus gemacht ihre mächtigen Klunker und einige der Goldmünzen aus seiner reichen Beute abzuzweigen und sie in der Stadt zu verteilen. Doch heute nicht mehr, das Geld kümmerte ihn kaum. Er stahl nicht aus Freude, er stahl nur noch zum Überleben und das nötigste nur, was er brauchte. Und was ihn am Leben hielt, mehr noch als jegliche Nahrung und Wasser es je zu tun vermochte, waren ihre Geheimnisse. Sie zogen ihn an, hielten in ihrem Bann gefangen. Brachten ihn dazu Nacht für Nacht in die Häuser der Bewohner, völlig willkürlich ausgewählt, einzusteigen und sie aus ihrem tiefen Schlafe zu reißen, wohl wissentlich, dass diese sich am nächsten Morgen nichtmehr an ihre Begegnung mit ihm würden erinnern können. Er war immer gut darin gewesen anderen Leuten seinen Willen aufzuzwingen, selbst verstand er es nicht ganz, aber da war etwas in seinem Blick das die Leute gefangen hielt und dazu brachten ihm ihre Seele zu offenbaren. „Du trägst den Fluch der Lagunenaugen in dir." Hatte einst eine ältere Dame zu ihm gesagt. Die Lagunenaugen. Natürlich kannte Serafin die Legende, die sich seit Anbeginn der Zeit darum rankten. Sie sind ein Vermächtnis. Ein Fluch und ein Segen zugleich. Der Träger der Lagunenaugen, trägt den Willen der Götter in sich. So stand es geschrieben. Nur sie sollten in der Lage sein das untergegangene zweite Venedig zu finden. Die Schattenschwester der Lagunenstadt. Er hielt nicht viel von Legenden doch selbst er sah und spürte in den Dämmerstunden des Tages das reine Präsens etwas anderem. Etwas Mächtigen. Geboren in den Schatten der Nacht sollte Venezia nur in diesen wenigen Minuten seine Tore öffnen und einen Blick in sein dunkles Reich gewähren. Es waren nur Kleinigkeiten, Schemen in den Spiegelungen der Fensterscheiben, wo doch keiner neben einem stand. Das erklingen von sich öffnenden Türen unbewohnter Häuser. Das Aufblitzen von Lichtern auf der Reflektion der Wasseroberfläche die es in Wahrheit nicht gab. Und einige, seltene Male das helle Lachen von Stimmen, Wortfetzen einer fremden Sprache die einem von fern her an das Ohr drangen. Es war das wohl größte alle Geheimnisse, die sich um die Lagunenstadt rankten und er war fest entschlossen dieses eines Tages zu entschlüsseln.

Ayzon- Ruf der WellenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt