Der Wind blies kalt in das Gesichte des Jungen und brachte ihn gefährlich zum schwanken.
Er umklammerte die Brüstung noch fester. Schließlich wollte er nicht fallen. Er wollte springen. Welche Ironie wäre das bitte? Er starb 'ausversehen' bei dem Versuch sich das Leben zu nehmen. Nein, sowas konnte er nicht zulassen! Wenigstens diese eine Sache in seinem Leben wollte er zu einhundert Prozent unter Kontrolle haben. Von dieser einen Sache wollte er sich sicher sein, dass sie ihm nicht aus den Händen glitt, so wie alles davor.
Sein Blick fiel auf den Abgrund unter ihm. Die Wellen des eiskalten Wassers waren wild, und, so hoffte er zumindest, tödlich. Er musste sich nur noch überwinden diesen einen Schritt zu machen. Das wäre es. Einen Schritt nach vorne, einen Schritt ins nichts. Dann ein paar Sekunden freier Fall. Dann Frieden. Eigentlich einfach, richtig? Doch ausnahmen bestätigten auch sonst die Regel seines Lebens.
Was wäre, wenn er abrutschte und falsch aufkam? Wie hoch ist die Chance einen Sprung aus dieser Höhe auf Wasser zu überleben? und wie hoch ist die Chance, sich dabei zu verkrüppeln? Unsicher schaute sich der Junge um. Und als er so um sich sah, und die Leute an ihm vorbeizogen, den Blick sturr nach unten gerichtet, denn "wenn ich es nicht sehe, dann habe ich auch nichts damit zu tun" fing er an zu lachen.Und der Junge lachte. Nicht von Herzen, doch er lachte. Denn er stand hier, auf der Waterloo Bridge, in London, einer Weltstadt, und war eine Sekunde davon entfernt, sich das Leben zu nehmen, und die Leuten liefen einfach vorbei und liesen ihn machen, denn scheinbar waren Selbstmörder erst dann relevant, wenn sie sich die Brücke bereits herunter gestürzt oder den Abzug bereits gezogen haben, und man dann mit gespielter Traurigkeit das Schicksal dieser armen, verlorenen Seelen bedauern kann, und sich dann ganz heuchlerisch aufgebracht fragen konnte, warum denn keiner was gemacht hat und wie sowas denn passieren kann, bevor man die Seite der Zeitung umschlägt und die Ergebnisse des letzten Fußballspiels dann schon wieder viel interessanter sind, und man den namenlosen Toten in der Themse schon wieder vergessen hatte.
Der braunhaarige Junge zögerte noch ein paar Sekunden. Vielleicht hoffte er insgeheim, dass sich doch noch eine Hand auf seine Schultern legen würde, und ihn jemand fragen würde, ob er drüber reden möchte, über das, was er hier tat. Aber die Hand kam nicht. Und so schloss der Junge die Augen, zählte bis drei, und machte den beängstigenden, letzten Schritt.
Und noch ehe er das unerbittlich kalte Wasser spüren konnte, wurde ihm schon schwarz vor Augen.
DU LIEST GERADE
Late Miracle
General FictionVielleicht musste Chris sterben, damit er anfangen konnte zu leben.