Für F.
„Es tut mir wirklich leid, aber Sie können nicht einfach so unsere Toilette benutzen", schnauzte Monsieur Fernandez einen verzweifelten jungen Mann an. „Wenn Sie so dringend müssen, zahlen Sie doch einfach den Eintrittspreis. Dafür können Sie im Anschluss sogar unsere wunderbaren Prachtstücke bewundern. Sie werden es sicher nicht bereuen." Schweißtropfen bildeten sich auf seiner Stirn, so unerhört fand er das Anliegen des jungen Mannes.
„Monsieur, Ihre Kunstwerke sind mit Sicherheit sehr interessant, aber es geht mir lediglich um eine Toilette. Das Café hat leider schon geschlossen und zu mir nach Hause dauert es eine ganze Weile. Sie sind meine letzte Hoffnung."
Juliette beobachtete die Unterhaltung schweigend und verbal ihr Gesicht hinter einer veralteten Museumszeitung. Die letzte Ausstellung war ein Kassenschlager gewesen, doch die momentanen Kunstwerke über Amor und Cupidon fanden keinen allzu großen Anklang. Ab und an verirrte sich ein Paar in die winzigen Ausstellungsräume, aber die meiste Zeit blieb es still.
Der junge Mann war die erste Person and diesem Tag, der die quietschende himmelblaue Tür geöffnet und das Museum betreten hatte. Er trug heruntergekommene Klamotten, wodurch er in diesen nobleren Gemäuern wie ein Fisch an einem Sandstrand wirkte. Seine beige Hose hatte winzige Löcher, so als hätte eine Katze sich daran gekrallt. Das weiße Hemd, dass er dazu trug, hatte wahrscheinlich noch nie ein Bügeleisen gesehen und seine schwarzen Locken hingen ihm wild ins Gesicht. Er wirkte nicht wie all die intellektuell wirkend wollenden Kunststudenten, die sich normalerweise im Museum aufhielten. Nein, er wirkte authentisch.
Vielleicht war das der Grund, weshalb Juliette sich nicht traute, ihm in die Augen zu sehen. Und vielleicht war auch das der Grund, warum sie schließlich doch die Zeitung ordentlich zusammenfaltete und nicht ihm sondern den Frauen von Algier in die Augen schaut und leise murmelte: „Ich wohne gegenüber. Sie können meine Toilette benutzen." Er wirkte leicht verlegen und fuhr sich durch die Haare. Auf Juliettes Lippen legte sich ein sanftes Lächeln. „Natürlich nur, wenn es Ihnen nichts ausmacht, in ein fremdes Haus einer Ihr unbekannten Person zu treten."
„Normalerweise würde ich ein solches Angebot ablehnen, aber wenn es Ihnen wirklich nichts ausmachen sollte einen Fremden in Ihr Haus reinzulassen, wäre ich Ihnen auf ewig dankbar."
Juliettes Lächeln verstärkte sich, sodass sich kleine Grübchen bildeten. Ihr gefiel es, wie er sich ausdrückte. Unter anderen Umständen würde sie niemals einfach so jemanden ihre Wohnung betreten lassen, aber er löste etwas in ihr aus, was unmöglich zu beschreiben schien. „Sie sind jederzeit willkommen." Die Worte verließen ihren Mund ohne dass ihr Kopf die Chance hatte sich darüber Gedanken machen zu können. Ihre Wangen färbten sich zartrosa und der junge Mann schaute kurz auf den Boden und dann lächelnd in ihre grünen Augen, die wie ein Smaragd leuchteten.
Monsieur Fernandez, der der Unterhaltung stillschweigend gelauscht hatte, klatschte in die Hand. Der Ton hallte nach. „Juliette, ich mag Sie wirklich gerne, aber möchten Sie bitte außerhalb des Museum sich um ihr Liebesleben kümmern. Gehen Sie raus, machen Sie Feierabend. Ich sehe Sie morgen früh wieder. Pünktlich!"
Es gab einige Tage, an denen Juliette an ihren Beruf gezweifelt hatte. Wenn sie erst spät nachts nach Hause kam und trotz der langen Tage kaum ihre Miete bezahlen konnte. Wenn Monsieur Fernandez wieder einmal einen seiner Wutausbrüche hatte, weil er nicht wusste, wie lange das Museum in einer Welt überlebte, in der die Menschen nur Mona Lisa guten Tag sagen wollten. Es war nicht einfach und dennoch könnte sie sich keine schönere Arbeit vorstellen. Kunst. Ein so simples, fast schon langweiliges Wort, das für sie die Welt bedeutete. Kunst war nicht dazu gedacht, eine Goldgrube zu sein. Kunst sollte für alle sein, Menschen inspirieren und ganz still und heimlich und doch auf eine laute und fast schon rebellische Art und Weise für Frieden sorgen.
Vielleicht war das der Grund warum sie in dem kleinen Museum, gut versteckt in einer Seitengasse in Paris arbeitete. Weit entfernt vom Louvre oder dem Centre Pompidou, wo man vor lauter Menschen kaum noch atmen konnte. Für Juliette war dieses Museum das echte Paris. Das Paris, wo Fremde nicht lange fremd blieben. Wo Kulturen aufeinander trafen und wo sie sie selbst sein konnte.„Danke", gab sie beschwingt von sich und lief um den Tresen herum. „Alors, gehen wir?"
Wenige Minuten später kamen sie in Juliettes Wohnung an. „Es ist nicht besonders groß, aber naja, dafür halt Zuhause", sagte sie leicht verlegen, als er den kleinen, fast quadratischen Raum betrachtete, der sowohl Küche, als auch Wohnzimmer war. Die Wände waren weiß gestrichen und die vielen Pflanzen und ein großes Fenster machten den Raum gemütlich. „Verstehe", er schmunzelte leicht.
„Wie heißen Sie überhaupt?"
„Juliette. Und mit wem habe ich das Vergnügen?"
„Anton", sagte er und deutete eine Verbeugung an.
„Anton", wiederholte Juliette kaum hörbar und schaute nun direkt in seine Augen. „Sie kommen nicht aus Paris, habe ich recht?" Ihr war schon vorher der unbekannte Dialekt aufgefallen. „Ich komme aus Quebec, Kanada. Eine reizende Stadt, aber mit der Liebe hat es nicht geklappt. Paris fand ich schon immer toll und es soll die Stadt der Liebe sein, weshalb ich nun hier studiere."
Bei diesen Worten musste Juliette grinsen. „Bei mir hat es bis jetzt nur selten gefunkt, aber wer weiß, wo zufällige Begegnungen hinführen?" Sie setzte alles auf eine Karte. Anton gefiel ihr. Auch dieser wirkte nicht abgeneigt. „Vielleicht war es Schicksal. Sag mir Juliette, was hältst du von der Idee morgen ein Glas Rotwein bei mir zu trinken?" Beinahe hoffnungsvoll schaute er sie an. Er wirkte, als würde Leben und Tod von ihrer Antwort abhängen. „Sehr gerne." Sie strahlte pures Leben aus. Das hier war das Leben. Das hier war Paris.
„Juliette."
„Anton." Fragend sah sie ihn an.
„Du verzauberst mich."Juliette lächelte und griff nach seiner Hand. Paris. Vielleicht war es doch die Stadt der Liebe.
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juliette und anton
Short StoryDie Geschichte von Juliette und Anton. Von Kunst und dem Schicksal. Von der Liebe und Paris.