Briefe voller Sehnsucht

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Es war der Tag, an dem es zum ersten Mal in diesem Jahr schneite. Keine vom Winde davongetragenen Mini-Flocken, sondern große, weiße Schneeflocken, die langsam zur Erde schwebten.

Ich nahm mir keine Zeit, das weiße Treiben vor den Fenstern unseres Hauses zu bestaunen. Kaum hatte ich ein Auge aufgeschlagen, da war ich auch schon auf dem Weg nach unten, riss die Haustür auf und rannte Barfuß durch den Vorgarten bis zum Postkasten.

Da lag er. Ein kleiner, weißer Umschlag, unscheinbar und doch mehr Wert als das Sparbuch meiner Oma oder das neue Auto meines Vaters.

„Emil, du holst dir noch den Tod", rief er durch die geöffnete Haustür.

Schuldbewusst senkte ich den Kopf, drückte den Brief an meine Brust und lief zurück ins Haus, die Tür hinter mir zuschlagend. Vater warf mir über den Rand seiner Tageszeitung hinweg einen tadelnden Blick zu.

Es polterte auf der Treppe und noch bevor ich den Umschlag aufreißen konnte, erschienen meine Mutter und mein Bruder in der Küche.

„Emil, zieh dich an, du verpasst sonst den Bus", rief Mutter vergnügt.

Sie musterte meine schneebedeckten Schultern, den Schlafanzug, aber als ihr Blick den Brief fand, wurde ihre Miene weich und nachsichtig.

„Na los, ich schmiere dir ausnahmsweise deinen Toast, dann kannst du den Brief im Bus lesen."

„Danke", murmelte ich und sauste los, den Umschlag immer noch an meine Brust gedrückt. Während ich meine Socken anzog, riskierte ich einen kurzen Blick auf den Absender. Mein Herzklopfen erreichte neue Höhenflüge. Filomena Oliveira. Der Name war in krakeliger Handschrift verfasst. Ja, es war nicht nur der Tag des ersten richtigen Schnees, sondern auch der Tag, der mir die Rückkehr des Mädchens auf dem Kirschbaum ankündigte. Zwanzig Minuten später saß ich im Bus, ein Glas Orangensaft, zwei Scheiben Toast mit Kirschmarmelade und einen Apfel im Magen und drückte das Schreiben fester an mich. Filomena Oliveira. Er war wirklich von ihr. Nicht der erste Brief, den wir austauschten, aber in meinem letzten hatte ich nach dem Datum ihrer Rückkehr gefragt.

Mit zitternden Händen riss ich den Briefumschlag auf und zog das dicke Papier heraus. Der Bus ruckelte leicht und bog in eine Kurve ein. Ich klammerte mich beim Lesen fest.

Lieber Emil,

ich sitze hier an den Klippen und schaue auf das Meer. Normalerweise ist das mein Lieblingsort. Das Rauschen der Wellen bringt meine Gedanken zum Stillstand und ich frage mich, wie weit die Welt ist. Ab selbst an diesem Ort sind meine Gedanken immerzu bei dir, kehren zu dir zurück, angezogen wie von einem Magneten.

Wie gern hätte ich dich jetzt bei mir, würde mit dir die eine oder andere Kirsche teilen. Aber zum Glück ist unser Wiedersehen nicht mehr weit. Am 21. Dezember komme ich zurück nach Deutschland und bin erstmal für ein paar Tage in Nürnberg. Dort gibt es zwar keine Kirschbäume, aber einen Weihnachtsmarkt. Vielleicht können wir uns da treffen.

Natürlich werden wir uns da treffen! Und wir werden über den Weihnachtsmarkt schlendern wie ein frisch verliebtes Ehepaar. Ich habe unser Wiedersehen schon vor Augen, während ich aufs Meer schaue und meinen Emil nicht mehr aus dem Kopf bekomme. Will ich auch gar nicht.

Deine Filomena

Ich ließ den Brief sinken. Weihnachten, der Weihnachtsmarkt, Schnee, Schmalzkuchen, gebratene Mandeln, weihnachtliche Musik und dazwischen Filomena und ich.

Tränen stiegen in mir auf, die ich mir sofort verkniff. Doch nicht vor den anderen Jungs aus meiner Klasse! Stattdessen las ich den Brief gleich noch einmal, ging ihn Wort für Wort durch, nur um danach wieder von vorn zu beginnen. Das tat ich, bis der Bus vor der Schule hielt.

Als wäre Filomenas Brief mein größter Schatz, faltete ich das Papier, steckte es zurück in den Umschlag, packte den Umschlag in eine Folie und klemmte die Folie zwischen zwei Mappen.

Beschwingt lief ich zu meinem Klassenraum. So viel Wärme im Bauch hatte ich zuletzt nach dem heißen Eintopf meiner Mutter verspürt. Trotz der Sommerferien, die ich zu großen Teilen mit Filomena verbracht hatte, kam mir dieses Gefühl neu vor. Mein Herz pochte, aber es war eine angenehme, prickelnde Aufregung, nicht wie vor einer Prüfung, sondern eher wie die Vorfreude vor einem Geburtstag, tausendfach verstärkt.

Den ganzen Tag begleitete mich dieses Gefühl, trug mich durch den Mathe- und durch den Sportunterricht, bei dem wir an einem Reck turnen mussten, wobei ich mir immer zutiefst lächerlich vorkam.

Noch in der Umkleidekabine fragten mich meine beiden besten Freunde, was denn mit mir los sei und warum ich plötzlich beim Turnen so viel Freude zeigte. Ich zögerte, ließ sie dann aber einen kurzen Blick auf den Umschlag von Filomenas Brief werfen. Steckte ihn allerdings wieder weg, bevor die beiden überhaupt einen Blick auf den Brief selbst geworfen hatten.

„Du bist so gemein", grummelten sie und zogen von dannen.

„Ihr werdet das verstehen, wenn ihr eure Mädchen auf dem Kirschbaum gefunden habt", rief ich ihnen hinterher. Dabei grinste ich in mich hinein. Der Gedanke, über etwas Geheimes, Rätselhaftes aus der Welt der Erwachsenen Bescheid zu wissen und darin meinen Freunden voraus zu sein, bereitete mir Vergnügen.

Erst abends, im Schein meiner Nachttischlampe, holte ich ihren Brief wieder heraus, breitete ihn auf meinem Schreibtisch aus. Draußen heulte der Wind, zerrt an dem alten Fenster, dass es klapperte. Vor der Fensterscheibe wirbelten die Schneeflocken wild durcheinander wie in einer Schneekugel, die immer wieder geschüttelt wurde.

Erst jetzt erlaubte ich mir ein paar Tränen, anfangs über den Schmerz des Vermissens, aber dann, als ich ihr Schreiben Wort für Wort durchging, brach es aus mir heraus. Dass sie mich nicht mehr aus dem Kopf bekam, die Erinnerungen daran, wie sie vor meinem Fenster aufgetaucht war oder wie wir unter der Eiche unser Kirscheis geschleckt hatten, wo sie mir ihren Namen verraten hatte. All das war plötzlich in meinem Kopf präsent und ließ die Tränen fließen. Aber dabei konnte ich nicht aufhören zu lächeln.

Ging das alles nicht doch ein bisschen weit? Was passierte hier mit mir?, fragte ich mich nicht zum ersten Mal. So durcheinander hatte ich mich noch nie gefühlt. Und in dieser Stimmung, zwischen Vermissen, Vorfreude und glücklichen Erinnerungen, kramte ich einen Bogen Briefpapier aus meinem Schreibtisch, den ich mir extra für Filomenas Briefe gekauft hatte, und setzte den Stift an.


Wiedersehen bringt KirschenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt