12.

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Alexandra

In mir geht es drunter und drüber.

Langsam verschwinden die schwarzen Punkte vor meinen Augen. Vor mir zeichnet sich wieder ein klares Bild ab.
Langsam verschwindet das Pochen in meinem Kopf. Nur das unbestimmte Gefühl bleibt.
Langsam kehre ich in die Realität zurück.
Mein Blick ist gesenkt. Ich schaue auf meine zitternden Hände, auf mein zuckendes Bein. Ich spüre noch immer den warmen Arm auf meinem Körper. Die Panik verschwindet nicht, sie bleibt.
Am liebsten würde ich die Person von mir stoßen, mich irgendwo verkriechen, doch das geht nicht. Ich bin wie versteinert, mir fehlt die Kraft, ich kann es nicht. Ich kann gar nichts mehr.
Mit einem Mal löst sich der Druck von meinen Ohren. Ohne jegliche Vorwarnung prasselt alles auf mich ein. Es ist, als wäre ein Damm gebrochen. Auf einmal nehme ich wieder alles wahr.
Die Musik, die vorhin noch leise zu mir durchdrang, ist mit einem Schlag unfassbar laut, der Griff um meine Taille kommt mir mit einem Mal viel fester vor als noch vor ein paar Minuten und durch meinen Körper schießt ein unfassbarer Schmerz. Wovon er kommt, weiß ich nicht.

Der Schmerz kommt von meinem Handgelenk. Mein Daumen massakriert es. Ich kann nichts tun, es passiert wie von selbst. Die Kontrolle darüber habe ich schon vor Monaten verloren.
Ich spüre, wie der Arm von mir genommen wird. Durch meine Augen nehme ich wahr, wie die Gestalt sich vor mich hockt, anscheinend wurde ich auf ein Bett oder ähnliches dirigiert. Die Hände der Person schließen sich erneut sanft um meine Taille. Eine links, eine rechts. Ich sehe, wie sich der Mund von dem Jungen immer wieder öffnet und schließt. Seine Worte dringen gedämpft zu mir durch. Obwohl mein Gehör nicht mehr gedämpft ist, dringen sie kaum zu mir durch. Ich glaube er fragt mich, ob es mir gut geht, ob alles okay ist. Aber wissen tue ich es nicht. Ich gebe ihm auch keine Antwort, ich lasse ihn nur auf mich einreden. Ich weiß nicht, ob er irgendwann verstummen wird, weil er einsieht das es nichts bringt oder ob er gehen und mich allein lassen wird. Alles, was ich im Moment weiß, ist, dass ich die Kontrolle verloren habe. Ich habe sie darüber verloren, so zu tun, als wäre alles in Ordnung. Und das wird irgendwann seinen Tribut fordern und das wusste ich. Ich wusste es von der Sekunde an, in der ich meinen Körper nicht länger unter Kontrolle hatte.

Mein Daumen massakriert mein Handgelenk weiterhin, mein Blick ist gesenkt. Zu meinem Leidwesen spüre ich noch immer die Hände des mir gegenüber. Ich stelle fest, dass noch immer auf mich eingeredet wird. Der einzige Unterschied zu noch vor ein paar Minuten ist, dass ich jedes Wort klar und deutlich verstehe. Immer wieder fragt er mich dieselben Fragen: wie es mir geht, ob ich Hilfe bräuchte. Ich weiß das ich ihm eine Antwort schulde, trotzdem kriege ich mich nicht dazu durchgerungen meinen Mund zu öffnen und das zu tun, was das einzig Richtige wäre. Ihm zu sagen das es mir gut geht. Stattdessen starre ich weiterhin stumm auf meine Hände, beobachte wie mein Daumen mein Handgelenk zerfleischt und meine restlichen Finger, die unerbittlich zittern. Panik schießt noch immer durch meine Adern und regiert meinen Körper.

Schließlich hebe ich vorsichtig meinen Blick. Der Junge hockt nicht mehr vor mir. Er ist aufgestanden und hat sich an das in den bodeneingelassene Fenster mir gegenübergestellt. Kurz lasse ich meinen Blick durch den Raum schweifen und stelle fest das, dass Zimmer hauptsächlich in dunklen Tönen gehalten ist und an den Wänden größtenteils Poster hängen.
Meine Beine fühlen sich an, als wäre jegliche Kraft aus ihnen gewichen. Ich versuche erst gar nicht aufzustehen. Ich richte meinen Blick auf die Person am Fenster, irgendwie kommt er mir seltsam bekannt vor. Seine braunen Haare, die breiten Schultern, das weiße Shirt und die schwarze Hose. Der Junge dreht sich um. Augenblicklich beginnt mein Herz schneller zu schlagen, erneut macht sich Panik in mir breit. Ich kenne ihn, da bin ich mir sicher.

Er schluckt, ehe er zu reden beginnt. „Hör zu. Ich weiß das es mich grundlegend nichts angeht was mit dir los ist, aber.."
Und da ist es. Das Wort mit vier Buchstaben. Das Wort welches immer folgt.
„Aber wenn du mich verstehst, und da bin ich mir ziemlich sicher, kannst du auch mit mir reden. Ich weiß nicht was mit dir los ist, du musst es mir auch nicht sagen. Ich möchte nur wissen, ob es dir wieder gut geht oder ob du etwas brauchst. Meinetwegen kann ich dich danach auch wieder in Ruhe lassen, solange du mit mir sprichst."
Ob ich mit ihm reden würde? Auf gar keinen Fall.
Ob ich ihm sagen würde, was mit mit los ist? Negativ.
Ob er mich in Ruhe lassen würde? Ich bin mir sicher er würde es nicht tun. 
Seine Worte wirken wie ein Stoß zurück in die Gegenwart.
Vorsichtig stehe ich auf. Meine Beine sind wackelig, mein Herz springt in meiner Brust herum. Ich presse meine Lippen fest aufeinander, gehe langsam und vorsichtig ein paar Schritte in Richtung der Tür. Währenddessen beobachtet mich der Kerl verwundert.
„Alles okay? Was machst du da?" Seine Worte kommen zögerlich über seine Lippen und langsam kommt er auf mich zu. Ich weiche immer weiter zurück, bis ich schließlich direkt vor der Tür stehe. Wenn ich eines gelernt habe, dann das man nie jemandem den Rücken zuwenden sollte. Ich strecke meine Hand aus, um nach der Türklinke zu tasten, doch als ich sie gerade öffnen möchte, stemmt sich ein Arm dagegen. Es ist sein Arm.

„Halt. Bevor du gehst, redest du mit mir." Sein Atem streift mein Gesicht und augenblicklich breitet sich eine Gänsehaut auf meiner Haut aus. Mein Herz springt noch immer unkontrolliert in meiner Brust herum.
„Was ist mir dir los? Was ist da vorhin passiert? Du lagst auf einmal bewusstlos auf dem Boden." Mein Atem beschleunigt sich und ich merke, wie ich langsam die Kontrolle über mich verliere, wie sie sich von mir löst.
„Sieh mich an, wenn ich mit dir rede."
Sieh mich an, wenn ich mit dir rede, Schlampe!
Sieh mich an!
Sieh mich gefälligst nochmal an habe ich gesagt!
In meinem Kopf vermischen sich die Erinnerungen von meinem Vater mit der Gegenwart.
Sieh mich an, wenn ich mit dir rede.
Sieh mich verdammt nochmal an!
Ich löse meinen Blick vom Boden und komme seiner Aufforderung langsam nach. Ich bemühe mich um einen emotionslosen Ausdruck, scheitere in diesem Moment aber kläglich.
„Was ist mit dir los?", fragt er erneut. Seine Stimme ich sanft, trotzdem erinnert sie mich an meinen Vater. Mein Körper zittert als ich die angestaute Luft ausstoße. In seinen Augen breitet sich so etwas wie Mitgefühl aus, aber vielleicht irre ich mich auch.

Wer würde schon mit mir Mitleid haben?
Wer würde mit einem Teenager Mitleid haben, das sich nicht einmal gegen seinen Vater wehren kann?
Wer würde das schon, hm?
Wer würde Mitleid mit einem Mädchen haben?
Wer?
Niemand. Niemand würde Mitleid mit einem Teenager, einem Mädchen, das sich nicht gegen den eigenen Vater wehren kann, haben.
Niemand.
Absolut niemand.
Nicht wahr?

Survive instead of life Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt