Ich hatte einmal drei Brüder.
Finlei war der älteste - der mutige. Nichts machte ihm Angst, weder Spinnen noch Nadeln noch eine Tracht Prügel mit Babas Spazierstock. Er war der Schnellste von uns vier Geschwistern, flink genug, um eine Fliege nur mit dem Daumen und einem Fingerhut zu fangen. Doch mit seiner Unerschrockenheit ging die Sehnsucht nach Abenteuern einher. Er verabscheute es, in unserer Werkstatt zu arbeiten, das kostbare Tageslicht mit dem Nähen von Kleidern und Ausbessern von Hemden vergeuden zu müssen. Und er ging achtlos mit der Nadel um, hatte aufgrund kleiner Stichwunden ständig die Finger gepflastert, und seine Nähte waren unregelmäßig. Ich trennte sie immer wieder auf uns setzte sie neu, um Finlei vor Babas Standpauken zu bewahren.
Finlei besaß nicht die Geduld, um ein Schneider wie Baba zu werden.
Sendo besaß Geduld, aber nicht fürs Nähen. Mein zweiter Bruder war der Poet in der Familie, und das einzige Spinnen, das er liebte, war das Spinnen von Geschichten, besonders über das Meer. Er erzählte in solch vortrefflichen Einzelheiten von den schönen Gewändern, die Baba Nähen konnte, dass alle Damen in der Stadt lautstark danach verlangten - nur um zu erfahren, dass sie gar nicht existierten.
Zur Strafe hieß Baba ihn auf dem Pier hinter unserer Werkstatt Fäden aus den Kokons der Seidenraupen zupfen. Oft stahl ich mich hinaus, um mich zu ihm zu setzen und seinen Geschichten über all das zu lauschen, was hinter diesem endlosen Horizont aus Wasser lag.
,,Welche Farbe hat das Meer?", fragte Sendo mich dann.
,,Es ist blau, Dummkopf, was sonst?".
,,Wie willst du die beste Schneiderin in A'landi werden, wenn du keine Farben unterscheiden kannst?". Sendo schüttelte den Kopf und wies auf das Wasser. ,,Schau mal hin. Schau in die Tiefe". ,,Saphir", sagte ich, während ich die Wellenberge und -täler des Ozeans ins Auge fasste. Das Wasser funkelte. ,,Saphir, wie die Steine, die Lady Tainak um den Hals trägt. Aber es ist auch ein Hauch von Grün dabei...Jadegrün. Und die Schaumkronen sind wie Perlen". Sendo lächelte. ,,Schon besser". Er legte mit den Arm um die Schultern und zog mich an sich. ,,Eines Tages werden wir zu See fahren, du und ich. Und du wirst das Blau der ganzen Welt sehen". Um Sendos Willen wurde Blau meine Lieblingsfarbe. Er bemalte jeden Morgen das Weiss meiner Wände, wenn ich mein Fenster öffnete und das Meer im Sonnenlicht glitzern sah. In Saphir- oder Himmelblau. Azurblau. Indigo. Sendo Schultern meine Augen darin, die Schattierungen der Farben zu erkennen, sie vom dunkelsten Braun bis zum hellsten Rosa schätzen zu lernen. Zu entdecken, dass Licht etwas tausendfach brechen und zu etwas anderem machen konnte. Sendos Herz war für die See gemacht, nicht dafür, ein Sch Schneider wie Baba zu werden.
Keton war mein dritter Bruder, und er stand mir vom Alter her am nächsten. Seine Lieder und Witze brachten alle zum Lachen, gleichgültig, in welcher Stimmung wir waren. Er bekam immer Schwierigkeiten, weil er unsre Seide grün statt purpurn färbte, weil er achtlos mit schmutzigen Sandalen auf frisch gestärkte Kleider stieg, weil er vergaß, die Maulbeerbäume zu gießen, und weil er nie ein Garn spann, der fein genug war, dass Baba es zu einem Pullover hätte stricken können. Geld rann ihm wie Wasser durch die Finger. Aber Baba liebte ihn am meisten - obwohl Keton nicht diszipliniert genug war, um Schneider zu werden.
Dann war da noch ich - Maia. Die folgsame Tochter. Meine früheste Erinnerung ist, dass ich stillvergnüngt bei Mama saß, die am Spinnrad saß, die am Spinnrad arbeitete, und Finlei, Sendo und Keton lauschte, die draußen spielten, während Baba mir beibrachte, Mamas Garn aufzurollen, damit es sich nicht verknotete.
Mein Herz schlug tatsächlich fürs Schneidern: Ich war imstande, mit Nadel und Faden umzugehen, bevor ich gehen konnte, und eine Naht aus perfekten Stichen zu setzten, bevor ich sprechen konnte. Ich liebte das Nähen und freute mich, Babas Handwerk zu erlernen, anstatt mit meinen Brüdern nach draußen zu gehen. Außerdem verfehlte ich immer mein Ziel, wenn Finlei mir das Boxen und den Umgang mit Pfeil und Bogen beibringen wollte. Auch wenn ich Sendos Märchen und Geistergeschichten regelrecht aufsaugte, hatte ich selbst nie etwas zu erzählen. Und ich fiel immer auf Ketons Streiche herein, egal, wie oft meine älteren Brüder mich davor warnten.
Baba sagte stolz, ich sei mit einer Nadel in einer Hand und einer Schere in der anderen zur Welt gekommen. Und dass ich, wenn ich nicht als Mädchen geboren wäre, vielleicht der größte Schneider von A'landi geworden wäre, zu dem die Kaufleute von einer Küste des Kontinents zur anderen strömten.
,,Der Wert eines Schneiders bemisst sich nicht nach seinem Ruhm, sondern nach dem Glück, das er beschert", sagte Mama, als sie merkte, wie enttäuscht ich über Babas Worte war. ,,Du wirst die Nähte unserer Familie zusammenhalten, Maia. Kein anderer Schneider auf der Welt kann das".
Ich erinnere mich, dass ich sie anstrahlte. Damals war alles, was ich mir wünschte, dass meine Familie glücklich war und beisammenblieb - für immer.
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Ein Kleid aus Seide und Sternen (Band 1)
Fantasy(Dies ist nicht meine Geschichte, sondern die von Elizabeth Lim) ,,Mir hast du am meisten nachgeschnüffelt" beharrte ich. ,,Nur weil du ein Mädchen warst, das sich als Junge ausgab", antwortete er. ,,Das war interessant. Die anderen waren nicht so...