When Angels Fall (1)

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Unsere Zeit macht es der Jugend schwer. Es besteht überall das Streben, die Menschen gleichförmig zu machen und ihr Persönliches möglichst zu beschneiden. Dagegen wehrt sich die Seele mit Recht.
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Hermann Hesse -


BRD 1981

„Was für eine kranke Gestalt ich doch geworden bin, widerlich. Ich kann mich selbst nicht mehr ertragen", murmelte Andor mit leiser, brüchiger Stimme vor sich hin. „Es ist noch nicht allzu lange her, dass ich allein mit der Kraft meiner Gedanken den Raum krümmen konnte. Und was ist jetzt? Ich bin so voller Hass und Verachtung, dass ich mir einbilde, sämtliche zerstörerischen Vorgänge auf diesem Planeten gingen allein auf mein Konto, aus reiner Frustration über mein Dasein."

Chris ließ die Worte seines Freundes auf sich wirken wie ein trauriges Lied, das er schon zu oft gehört hatte. Doch er spürte, dass es dieses Mal anders war, dass Andor tiefer gefallen war als je zuvor. Seine Augen verrieten eine Traurigkeit, die Chris bis ins Mark erschütterte. Andor saß so verloren vor seinen Synthesizern, dass Chris auf ihn zuging und ihm tröstend die Hand auf die Schulter legte. Mit seinen schulterlangen, dunkelblonden Haaren und dem Zierwappen mit dem Kreuz, das auf der linken Brustseite seines weißen Neckermann-Sweatshirt aufgedruckt war, sah Andor in diesem Moment aus wie Ritter Lancelot aus König Artus' Tafelrunde, der den Kampf gegen seine Gegner und gleichzeitig seine große Liebe verloren hatte.

„Andor, mein Freund, du darfst dich nicht in dieser Dunkelheit verlieren", sagte Chris einfühlsam. „Ich wünsche dir, dass du Kraft deiner Gedanken deine Frustration überwindest, selbst auf die Gefahr hin, dass sich die Krümmung deines Raums dann wieder auffaltet. Wenn du widerlich bist, dann sind wir es alle. Somit bist du also eher normal."

Andor zeigte jedoch keine Regung, als befände sich sein Geist hinter einem dichten Vorhang, der ihn von der Welt abschirmte und ihn unfähig machte, Chris' Worte zu verstehen. Chris sah ihn nachdenklich an, während er sich auf dem alten, abgenutzten Stoffsessel niederließ, der einzigen Sitzgelegenheit für Gäste in Andors bescheidenem Jugendzimmer, abgesehen von seinem Bett unter der Dachschräge, das mit einer altmodischen Tagesdecke überzogen war und auf dem ein paar LPs und Motorradzeitschriften herumlagen.

Chris wusste, dass sein Freund schon lange schwer mit sich selbst kämpfte, dass er gegen sein Seelenleid und seine inneren Dämonen antrat, deren Existenz er selbst kaum begreifen konnte. Als ob die Schwere der Welt auf seinen Schultern lag, als ob er den ganzen Schmerz und die Dunkelheit der Welt in sich aufnahm. Chris empfand tiefes Mitgefühl für seinen Freund und bewunderte zugleich Andors Fähigkeit, selbst in den finstersten Momenten seinen eigenwilligen, schrägen Humor zu bewahren. Doch Andors düstere Worte ließen auch erahnen, dass tief in seinem Innern die Glut einer schöpferischen Kraft lag, die nur darauf wartete, zu einem lodernden Feuer entfacht zu werden.

Die Sonne strahlte draußen hell vom blauen Himmel, aber in Andors Zimmer schien sie ihre Kraft und Wärme verloren zu haben. Die drückende Atmosphäre der Schwermut legte sich wie ein grauer Schleier über die beiden Freunde, die sich seit Jahren kannten und durch dick und dünn gegangen waren. Es war einer dieser Samstagnachmittage, die für immer in ihrer Erinnerung bleiben würden – ein Nachmittag geprägt von Dunkelheit und Licht, von Traurigkeit und Hoffnung, ein Nachmittag, an dem Freundschaft mehr bedeutete als alle Worte der Welt.

Chris ließ seinen Blick über die vertrauten Gegenstände im Zimmer schweifen – der alte, ausziehbare Wohnzimmertisch, auf dem ein Echogerät und Andors Synthesizer standen, denen er die zartesten Klänge entlockte; das Bücherregal voller Geschichten und Geheimnisse; der Schreibtisch, an dem Andor oft stundenlang saß und seine Comics zeichnete und seine Aquarelle malte oder träumend der Musik lauschte, die aus seinem alten Röhrenradio mit dem magischen Auge erklang. Sein Blick fiel auf das schwarze Möbelstück neben dem Bett, das ursprünglich das Unterteil eines Wohnzimmerschranks gewesen war. Auf ihm thronten nun eine moderne Stereoanlage und ein zweites Cassettendeck mit eingebauter Mischvorrichtung, mit dem Andor seine Synthesizermusik im Ping-Pong-Verfahren aufnahm, weil er sich eine Mehrspur-Tonbandmaschine und ein professionelles Mischpult mit seinem kargen Lehrlingsgehalt nicht leisten konnte. Chris war immer wieder erstaunt, welche Ähnlichkeit Andors Zimmer mit seinem eigenen aufwies.

Doch jedes Mal, wenn er Andor besuchte, verlor er sich in den Aquarellen, die Andor gemalt und mit denen er die Wände seines Zimmers geschmückt hatte. Jedes der Bilder schien eine eigene Geschichte zu erzählen. Sie waren in zarten Pastelltönen aquarelliert, von gelb über rosa bis hin zu einem rötlich-orangen Farbenspiel, das den Betrachter im sanften Licht der Sonne in einen Zustand der Vollkommenheit zu versetzen schien. Zwischen all den warmen Farben leuchteten auch vereinzelt die kühlen Töne von Grün und Blau hervor. Das satte Grün der Pflanzen und das tiefe Blau der Meere bildeten einen angenehmen Kontrast zu den sanften Pastelltönen.

Die Bilder zeigten farbenfroh schimmernde Fantasiewelten, in denen goldene Hügel emporragten, Vögel, die aus Höhlen aufstiegen, um in die Freiheit zu fliegen, Figuren, die eine überirdische Weisheit ausstrahlten und deren Körper in warmen Farben leuchteten. Besonders beeindruckt war Chris vom Bild eines majestätischen Inselbergs, der dem berühmten Uluru ähnelte, dem heiligen Berg der australischen Aborigines, in dem sich ein unheimlicher Höllenschlund auftat, in den ein Strom aus Feuer zu fließen schien. Die Kontraste zwischen Schönheit und Gefahr, Hoffnung und Verzweiflung verschmolzen in Andors Bildern auf magische Weise zu einer untrennbaren Einheit, die Chris immer wieder faszinierte. Die Aquarelle gaben ihm das Gefühl, in Andors fantastische Welten eintauchen zu können, sobald er sie nur lange genug anschaute. Chris wusste, dass sie ein wichtiger Teil von Andors einzigartigem Wesen waren.

Von draußen drang das Gezwitscher einiger Spatzen durch den Spalt des gekippten Fensters ins Zimmer, die fröhlich auf dem Dach vor dem Mansardenfenster herum hüpften, während im selben Moment der Lärm eines vorbei ratternden Zuges wie ein Monster die Wohlklänge der Natur verschluckte und sich mit dem tieffrequenten Brummen der Schiffe vermischte, die auf dem nahegelegenen Fluss ihre Bahnen zogen und die Fensterscheiben erzittern ließen. Von unten, vom Weg vor dem Haus, der an den Bahngleisen entlang führte, war das Geschrei spielender Kinder zu hören. Der Verkehr auf der Bundesstraße am Flussufer trug als weitere Lärmquelle das seine zur unerträglichen Geräuschkulisse bei. In einem winzigen Moment der Stille ermahnte die Glocke der Dorfkirche mit ihrem Viertelstundengeläut zur Demut gegenüber Gottes gnadenlos lärmender Welt.

Chris ging beherzt zum Fenster und machte es zu, was Andor nur recht sein konnte. Die Geräusche von draußen waren jetzt nur noch schwach zu hören, so dass man es aushielt. Er fragte sich, wann Andor es endlich schaffen würde, einen Weg aus dem Labyrinth seiner Selbstzweifel zu finden und aus dem engen geistigen Käfig auszubrechen, in den er von Kindesbeinen an wie ein Kaninchen eingesperrt war. Im schlimmsten Fall würde Andor am Ende seinen inneren Dämonen erliegen, so seine Befürchtung.

Es war noch nicht allzu lange her, dass Chris selbst in einem solchen Käfig steckte, umgeben von den Zwängen und Erwartungen seiner herrschsüchtigen Eltern und Lehrer und all der anderen Erwachsenen, die noch immer versuchten, ihn nach ihren kleinbürgerlichen Vorstellungen zu verbiegen. Es war ein mühsamer Prozess gewesen, sich aus diesem Gefängnis, aus der Enge seines anerzogenen Denkens zu befreien und sein wahres Ich zu entfalten. Doch am Ende hatte er es geschafft.

Geholfen hatte ihm dabei ein mysteriöser Fund aus seiner Kindheit, der sich neben seinem angeborenen musikalischen Talent als der eigentliche Schlüssel für seinen Käfig entpuppt hatte. Er wusste deshalb längst, wer er war und wie er sein Leben in Zukunft gestalten würde. Niemand würde es mehr schaffen, ihn zurechtzustutzen oder von seinem von der Natur vorgezeichneten Weg abzubringen. Der fügsame Knabe von einst, der auf den Namen Demian hörte und nach dem Willen seiner spießigen Eltern eine Beamtenlaufbahn hätte einschlagen sollen, existierte nicht mehr. Jetzt hatte er ein neues Bewusstsein, jetzt war er Chris Maria Juana Divine, der Musiker und Idealist. Und als solcher stand er seinem Freund Andor zur Seite, bereit, ihn aus seiner misslichen Lage zu befreien.

Die Wirren des SeinsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt