Kapitel 1 - Leidenschaft

21 2 0
                                    

Durch das geöffnete Fenster der Kapitänskajüte strich eine kühle Brise. Sie schlängelte sich behutsam über die kunstvoll verzierten Holzdielen, tänzelte leicht über den rötlichen Teppich und streichelte schließlich Lucias Gesicht. Die Brise spielte sanft mit ihren langen, weißblonden Haaren, ein Hauch von Frische, der Entspannung in ihr weckte. Obwohl ihre Augen noch geschlossen waren, lag sie wach, sanft aus dem Schlaf gehoben durch die kühle Berührung der Nachtluft. Die Dunkelheit der Nacht hatte sich leise angeschlichen, ihr Mantel des Schweigens umhüllt vom ruhigen Rauschen des Meeres. Der Schein der Zwillingsmonde durchflutete den Raum, tauchte ihn in ein zartes Licht. Ihr Glanz brach sich in den Mosaikfenstern und tanzte auf dem Boden in einem Spiel aus Farben und Schatten. Das sanfte Schaukeln der Fregatte wiegte Lucia wie in einer Mutterhand. Langsam öffnete sie die Lider, ihre metallischen Augen noch immer fremd in ihrem eigenen Spiegelbild. Mit jedem Blinzeln musste sich Lucia an ihre veränderte Sicht gewöhnen, eine Welt, die nun schärfer und doch fremd erschien. Die leichte Erleuchtung ihres Umfelds brachte ihre augmentierte Sehkraft zur Geltung, weit über das menschlich Gewohnte hinaus. In ihrem Blick lag eine ungewöhnlich detaillierte Fremdheit, als ob diese neue Perspektive ihr nicht gehören würde, als wäre sie ein gänzlich unmenschliches Geschenk, das sie noch nicht ganz angenommen hatte.

"Kein Wunder, dass ich mich oft so schrecklich fühle", gestand Lucia sich ein und seufzte bei dem Gedanken. Noch vor acht Monaten war ihre Welt in Dunkelheit gehüllt gewesen. Diese einfache und doch gewichtige Wahrheit ließ sie bisweilen in eine Tiefe von Beklommenheit und Angst fallen. Die aufdringliche Frage, was geschehen würde, sollten ihre neuen Augen versagen und sie zurück in die ewige Dunkelheit stoßen, verfolgte sie nicht selten.

"NEIN!", dachte Lucia entschieden, verbannte den düsteren Gedanken und richtete ihren Blick auf die hölzerne Decke über dem Doppelbett. Kapitänin Amira hatte ihr versichert, dass solch ein Versagen nicht eintreten würde. In ihren Augenhöhlen ruhten nun metallische Wunderwerke aus hylorischer Technologie. Sie waren frei von menschlichen Unzulänglichkeiten und erschaffen von einem Mann, dessen Handwerk durch unerschütterliches Vertrauen in seine Fähigkeiten geprägt war. In dieser immensen Zuversicht fand Lucia inneren Frieden. Die Worte ihrer Freundin ließen ihr Unbehagen schwinden, wie Morgennebel in der Sonne.

"Habe bitte Vertrauen in sein Handwerk. Vharun weiß, was er tut. Und wenn du ihm nicht vertrauen kannst, dann wenigstens mir. Du weißt, du kannst immer auf mich bauen. Das wird sich auch nie ändern. Ich verspreche es dir, Lucia."

Ehrlich zu sich selbst, wusste Lucia, dass sie niemandem außer Amira Glauben schenken würde. Amira, ihre Kapitänin, war zu jedem Moment aufrichtig gewesen und hatte jedes Versprechen gehalten. Sie stand im extremen Gegensatz zu den grausamen Menschen von früher, die Lucia nur als wertlose Ware sahen. Einst blind und als nutzlose Sklavin betrachtet, ohne jegliche wünschenswerte Eigenschaften, die sie verkaufbar gemacht hätten. Amira, ihre neue Freundin, schätzte das gegenseitige Vertrauen hoch. Ohne Zögern und ohne Vorbehalte hatte sie Lucia aus ihrem elendigen Dasein gerettet und sie willkommen geheißen. Amira hatte die tiefsten Schatten in Lucia erkannt und ihre traumatischen Erfahrungen mit unvergleichlicher Sensibilität verstanden.

"Eine Frau wie sie ist einzigartig. Mehr Menschen sollten sich wirklich an ihr ein Beispiel nehmen."

Während der vierzehn Monate an Bord der Crimson Dawn, hatte sie das Konzept des Vertrauens völlig neu erlernen müssen. Es war kein leichter Weg, doch die Begegnung mit so vielen freundlichen und gutherzigen Menschen ließ sie letztendlich zu einer wichtigen Erkenntnis gelangen. Die gegenseitige Akzeptanz, das Vertrauen, die Fürsorge und die bereitwillige Freundschaft ihrer Mannschaft nahm sie nach ihrem langen Weg der Heilung dankbar an. Lucia ließ sich darauf ein, legte ihre Ängste ab und schenkte diesem besonderen Menschen ihr tiefstes Vertrauen. Herausforderungen, die ihr einst unüberwindbar erschienen, waren jetzt kaum noch erwähnenswert. Mit einer flüchtigen Bewegung ihrer Finger strich sie die letzten Spuren der Schläfrigkeit von ihren Augenlidern, zog ein Bein heran und richtete den Blick nach vorne. Die dunkelrote Bettdecke lag unordentlich und zerknautscht an der hölzernen Wand neben ihr.

Zu Füßen des GalgensWo Geschichten leben. Entdecke jetzt