Kapitel 2 - Hingabe

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Amira, geprägt durch ihre ausgedehnte Ausbildung zur Assassine, hatte ein scharfes Auge für die Wünsche und Sehnsüchte der Menschen entwickelt. Sie las diese unausgesprochenen Verlangen wie ein offenes Buch. Im Gegensatz dazu war Valorie zwar eine Meisterin im Kampf, doch fehlte ihr das Verständnis für zwischenmenschliche Nuancen. Ihr Antrieb galt vornehmlich der Erfüllung eigener Bedürfnisse, wobei sie die subtileren Signale anderer oft übersah.

Lucia erinnerte sich, wie schwierig es für sie gewesen war, sich Amira und ihrer Crew anzuvertrauen. Es hatte gefühlt eine Ewigkeit gedauert, bis sie sich ihnen als neues Mitglied und Jägerin unter Amiras Führung geöffnet hatte. Vertrauen und Verständnis bildeten das Fundament ihrer Beziehung – Grundprinzipien, die Amira Ihzar in ihrer Mannschaft kultivierte. Jeder tolerierte und unterstützte jeden. Von Amira, ihrer Kapitänin und Freundin, hatte Lucia diese Werte gelernt. Nun, nach all der Zeit, betrachtete sie die Mannschaft nicht mehr nur als Freunde. Sie waren zu ihrer neuen Familie geworden, ein heilender Balsam für eine Wunde, die lange in ihr geschmerzt hatte.

"Meine neue Familie", dachte Lucia, während eine tiefe Wärme durch ihre Gedanken strömte und ihre Augen feucht werden ließ. Die Freude, die sie dabei empfand, war überwältigend. Die finsteren Tage voller Schwärze und Qual lagen nun hinter ihr. Sanft wischte sie sich die Tränen ab und lächelte schwach. Es war spät, und sie hatte eigentlich wichtigeres zu tun, doch die Erinnerungen an intime Momente hatten etwas in ihr geweckt. Ein bekanntes Verlangen keimte in ihr auf, das sie mit offenen Armen begrüßte. Diese Dunkelheit, diese tiefe Sehnsucht, schien ein Schlüssel zu ihrer Heilung zu sein. Die Traumata ihrer elfjährigen Sklaverei hatten ihr Selbstbewusstsein fast zunichte gemacht. Doch Amira, diese bemerkenswerte Frau, hatte ihr geholfen, etwas zu erreichen, was sie alleine nie geschafft hätte – vollständiges körperliches Vertrauen. Eine Sehnsucht, nach der sie sich jahrelang verzehrt hatte. Amira übertraf jede Erwartung an Toleranz und Gleichheit. Sie war das lebende Beispiel für bedingungslose Akzeptanz. Lucia sammelte ihre Gedanken und verweilte einen Moment in stiller Reflexion.

"Alissa sagte, sie würde mich abholen, sobald die Nacht einbricht. Aber sie ist noch nicht da."

Normalerweise kündigte die Ankunft von Vharuns Tochter sich durch einen lauten Knall auf dem Deck oder ein Klopfen an der Außenwand an. "Na gut, aber nur für einen kurzen Moment", beschloss Lucia und aktivierte vorsichtshalber ihre Iris. Zwar wusste Alissa nahezu alles über sie, dennoch wollte Lucia nicht überrascht werden. Das Aktivieren der Iris schärfte ihre Sinne erheblich, sodass sie selbst die leisesten Geräusche auf dem Schiff wahrnehmen konnte.

"Dann mal los", dachte Lucia und gab sich ihrem brennenden Verlangen hin, getragen von einem Gefühl der Sicherheit. Es war für sie nicht ungewöhnlich, mit Amiras Füßen zu spielen, während diese tief und fest schlief. Ein schelmisches Grinsen zeichnete sich auf Lucias Gesicht. Sie wusste, dass es Amira keineswegs störte; im Gegenteil, sie schien jede Berührung zu genießen und fand Gefallen daran, dass jemand sich ihren Füßen so hingegeben widmete. Im Gegensatz zu Valorie, die anfangs eine dominante Aura ausstrahlte, vermittelte Amira eine sanfte, einladende Präsenz. Es bereitete Amira Freude, Lucia in ihren Leidenschaften schwelgen zu sehen. Lucia schätzte sich glücklich, eine so wunderbare Frau kennengelernt zu haben. Jeder intime Moment mit Amira war einzigartig und besonders, oft bereichert durch Amiras überraschende Fertigkeiten. Alles schien perfekt, doch hegte Lucia den Wunsch, selbst die Zärtlichkeit der Liebe an ihren eigenen Füßen zu spüren, eine Sehnsucht, bei der weder Amira noch Valorie helfen konnten. Doch das war in Ordnung; beide hatten so viel für sie getan, dass dies nicht zu bemängeln war. Die liebevollen Worte Amiras beim ersten Mal würde Lucia niemals vergessen.

"Vertrau mir, Lucia. Du brauchst dich nicht zurückzuhalten, nicht bei mir," hatte Amira einst gesagt. "Ich würde niemals schlecht über dich denken oder urteilen. Jeder Mensch ist anders, hat unterschiedliche Vorlieben, und dafür sollte man sich niemals schämen. Sei stolz auf das, was dich ausmacht, und lass niemanden dir etwas anderes einreden. Ich bin für dich da. In meiner Gegenwart kannst du dich völlig fallen lassen; ich werde immer da sein, um dich aufzufangen. Lebe deine Wünsche mit mir aus, so wie du es möchtest. Bei mir bist du sicher. Das verspreche ich dir."

Zu Füßen des GalgensWo Geschichten leben. Entdecke jetzt