Kapitel 2

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Jonathan Graham lauschte weiterhin der vertrauten, dennoch fremden Stimme, die ihm das Märchen vom Fingerhütchen vorlas. Jedes Wort schien ihn in eine andere Welt zu entführen, eine Welt voller Magie und Abenteuer, weit entfernt von den Schatten seiner Vergangenheit. Als die Stimme verstummte, öffnete Jonathan langsam die Augen und erblickte das sanfte Gesicht des Mannes mit den roten Haaren. Er glaubte ein Lächeln unter der OP-Maske erkennen zu können.

"Entschuldigen Sie bitte, Reverend Graham, dass ich nicht bemerkt habe, dass Sie wach sind", sagte der Mann höflich und legte das abgenutzte Buch beiseite. "Wie fühlen Sie sich?"

Jonathan spürte die Wärme in der Stimme des Mannes und fühlte sich seltsam beruhigt in seiner Gegenwart. "Ich... ich weiß es nicht", antwortete er leise. "Wo befinde ich mich? Wer sind Sie?"

Der Mann lächelte und strich Jonathan sanft über die Stirn. Es war nicht unüblich, dass Patienten, die gerade aus dem Koma erwacht waren, nicht wussten, wo sie waren. David war geübt darin, den Menschen in dieser Situation ihre Angst zu nehmen.

"Mein Name ist Dr. David O'Conner. Ich bin Leiter der Chirurgie hier im Krankenhaus. Sie sind im Krankenhaus von Cliffhaven, Reverend Graham. Aber keine Sorge, wir kümmern uns um Sie." Jonathan spürte eine Mischung aus Verwirrung und Erleichterung. Dr. O'Conner schien ihm vertraut zu sein, obwohl er glaubte, sich noch nie zuvor begegnet zu sein. Doch seine Gegenwart gab Jonathan ein Gefühl von Sicherheit, das er lange nicht mehr gespürt hatte.

"Ich danke Ihnen, Dr. O'Conner", murmelte Jonathan und schloss die Augen wieder, während das Gefühl der Geborgenheit ihn langsam umfing. Die Stunden vergingen, und Jonathan fand sich immer wieder in der Nähe von Dr. O'Conner wieder, der wachte und ihn behutsam pflegte. In seiner Gegenwart fühlte sich das Krankenhaus weniger als ein Ort der Einsamkeit an und mehr wie ein Zuhause, in dem Jonathan sich sicher fühlte. Als er schließlich wieder einschlief, umhüllte ihn ein Gefühl von Frieden und Hoffnung, das er seit langem nicht mehr gespürt hatte. Und während er in die Dunkelheit des Schlafes glitt, wusste Jonathan, dass er nicht allein war, solange David an seiner Seite war. David war froh, dass Jonathan nach zwei Wochen endlich aus dem Koma erwacht war. Jeden Tag war er hierhergekommen, sogar an seinen freien Tagen. Es war das Gewissen, das ihn dazu trieb. Immer wieder mischte sich die Erinnerung an den Unfall aus frühen Kindheitstagen zu den des Reverends. Er suchte akribisch nach dem Fehler, der ihm oder einem seiner Kollegen unterlaufen sein könnte. Der Fehler, der dazu führte, dass Jonathan zweimal in weniger als vierundzwanzig Stunden auf dem OP-Tisch lag. Doch er fand nichts, was ihn zwar beruhigte, aber seine Sorge um Jonathan nicht minderte. Es war seltsam, normalerweise sorgte er sich nicht auf diese Weise um seine Patienten. Doch diese Ausstrahlung von Jonathan nahm ihn gefangen. Er wollte wissen, was hinter dieser mystischen Aura steckte. Welches Geheimnis trug der Reverend mit sich? Und dann war da die Einsamkeit, die den Mann mit den dunkelbraunen langen Locken umgab. Er wusste aus Erzählungen, dass einige Patienten, die im Koma lagen, wahrnahmen, was um sie herum geschah. Zwei Tage hatte David gewartet, ob jemand zu Besuch kam, doch es kam niemand. Keine Verwandten, keine Freunde, keine Bekannten. Er wusste von einigen Krankenschwestern, dass Jonathan beliebt, war in der Gemeinde, und dennoch kam niemand vorbei. Das war der Grund, weshalb David sich am dritten Tag dazu entschloss, jede freie Minute, die er hatte, damit zu verbringen, Jonathan Graham aus dem Märchenbuch vorzulesen, das er damals von seiner Großmutter geschenkt bekommen hatte. Irische Märchen. Sein Vater hatte es anfangs belächelt, ein typisch stolzer Schotte eben, so die Erzählung seiner Großmutter. Doch die Märchen waren ein Grund, warum er damals die schottischen Highlands hinter sich gelassen hatte und nach Cliffhaven gezogen war. Nun, es war auch ein Abschluss. Weg von dem Ort des Grauens. Weg von dem Schmerz, der dort lebte und ihn beinahe in den Tod getrieben hätte. Weg von den Erinnerungen, die ihn jedes Mal einholten, sobald er die Strecke fuhr, an der seine Eltern damals verunglückt waren. Und gerade dann, als er dachte, all der Schmerz und all diese Erinnerungen würden verblassen, wurde er zu einem Autounfall als Notarzt hinzugerufen. Das Schicksal um den Reverend ließ ihn nicht mehr los. Einige Kollegen machten sich Gedanken über sein Verhalten und sprachen dies auch offen an. Doch er ließ ihre Fragen unbeantwortet. Niemand kannte seine dunkle Vergangenheit, und er war auch nicht bereit, diese mit ihnen zu teilen. Als Jonathan erwachte, heilte etwas in David. Er wusste nicht genau, was es war. Kein Schicksal war ihm bis jetzt so nahe gegangen wie das von Jonathan. David lächelte leicht, als Jonathan wieder einschlief, und verließ das Patientenzimmer. Er dankte Gott im Stillen, dass er Jonathan noch eine Chance gab. Zwei Wochen hatte er um das Leben eines Mannes gebangt, den er nur aus Erzählungen kannte. David war jedoch bewusst, dass jetzt erst der richtige Kampf für seinen Patienten begann, aber er würde an seiner Seite sein, bis zu dem Tag, an dem er Jonathan ruhigen Gewissens entlassen konnte. Nun konnte er sich für fünf Minuten in Ruhe eine Tasse Kaffee im Mitarbeiterraum genehmigen, ohne dass Gedanken verrückt spielten, zumindest dachte er das. Mit Ava, der jungen OP-Schwester, hatte David jedoch nicht gerechnet.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Apr 27 ⏰

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