00

39 5 112
                                    

Lied: DARK TIMES von Ed Sheeran & The Weeknd 

Sage

Mein Blick schweifte über die atemberaubende nordirische Landschaft, die in rasender Geschwindigkeit am Busfenster vorbeizog. Die kargen Hügel, der wolkenverhangene Himmel und das satte Grün wirkten wie aus einem Gemälde. Jeder Baum, jeder Stein schien eine eigene Geschichte zu erzählen, doch in diesem Moment war ich von meinen eigenen Gedanken gefangen. Ich hörte „Dark Times" von The Weeknd und Ed Sheeran, die melancholischen Klänge schienen perfekt zu meinem Gemütszustand zu passen. 386,98 £ in meiner Tasche – eine Zahl, die mir immer wieder durch den Kopf ging. Es war alles, was ich hatte, als ich mich aufmachte, mein neues Leben an der Meadows Willson University im Norden Irlands zu beginnen. Eine der renommiertesten Universitäten des Landes, ein Ort, der für so viele unerreichbar schien, und doch hatte ich, Sage Nowak aus dem kleinen, unscheinbaren Dawson in Kanada, es mit einem Stipendium geschafft.

Doch der Weg hierher war alles andere als leicht. Die ersten Wochen hatte ich damit verbracht, krank zu sein, die Wände meines Zimmers anzustarren und mich zu fragen, ob das alles ein Fehler gewesen war. Mitte Oktober war es nun, und endlich würde ich mein Studium beginnen. Einen ganzen Monat hatte ich verpasst, doch nichts konnte mich davon abhalten, diesen Ort zu betreten, den ich seit meiner Kindheit in meinen Träumen besucht hatte. Mathematik und Astronomie – die beiden Disziplinen, die mir mehr bedeuteten als alles andere. Die unendlichen Weiten des Universums und die komplizierten Gleichungen, die es zu entschlüsseln galt, hatten mich bereits in jungen Jahren fasziniert. Diese Leidenschaft hatte mich angetrieben, hatte mich durch die Jahre getragen, auch wenn sie für meine Familie stets ein Rätsel blieb.

Meine Adoptiveltern und mein älterer Adoptivbruder Aiman hatten es nie verstanden. In ihrer Welt drehte sich alles um Football, um einfache Freuden und klare Ziele. Dass ihre Tochter, die sie aus reiner Wohltätigkeit adoptiert hatten, sich in abstrakte Zahlen und theoretische Physik vertiefte, schien ihnen völlig fremd. Es war fast so, als hätte ich eine unsichtbare Mauer zwischen uns errichtet, eine Barriere, die unüberwindbar schien. Es war quälend – besonders in den ersten Jahren, als ich noch verzweifelt versuchte, ihre Anerkennung zu gewinnen. Doch irgendwann, vielleicht als ich realisierte, dass mein Traum größer war als ihr Verständnis, hörte ich auf, es zu versuchen.

Die ständigen Vergleiche mit Aiman, der von unseren Eltern auf Händen getragen wurde, hatten mich zermürbt. Ich sah ihn auf dem Spielfeld, umgeben von jubelnden Menschen, während ich allein in meinem Zimmer saß, Bücher über Astronomie verschlang und mir Notizen über Differentialgleichungen machte. Jedes Mal, wenn ich versuchte, ihnen von meinen Fortschritten zu erzählen, stieß ich auf taube Ohren. Sie schienen nicht zu begreifen, warum ich mich für etwas so „Abstraktes" interessierte, etwas, das in ihrer Welt keinen Platz hatte.

In meinem kindlichen Verstand machte ich mir Vorwürfe. Ich glaubte, ich hätte etwas falsch gemacht, dass ich nicht gut genug war, um ihre Liebe und Aufmerksamkeit zu verdienen. Dabei hatte ich nichts getan, außer hart für meinen Traum zu arbeiten. Ich wollte immer nur eines: Anerkennung. Aber mit den Jahren wurde mir klar, dass ich diese Anerkennung nie bekommen würde – zumindest nicht von ihnen. Das hatte mich verletzt, tief. Es war ein unsichtbarer Schmerz, den ich lange Zeit nicht benennen konnte. Eine Wunde, die immer wieder aufgerissen wurde, wenn ich mit ansehen musste, wie meine Eltern Aiman auf seine Spiele begleiteten, während ich mit meinen Problemen allein blieb.

Als ich älter wurde, verstand ich, dass ich mich nicht mehr von ihren Erwartungen einschränken lassen konnte. Sie waren nicht meine leiblichen Eltern, und obwohl sie mir ein Zuhause gegeben hatten, war es nie wirklich meines gewesen. Es war ihre Welt, nicht meine. Die wenigen Erinnerungen, die ich an meine frühe Kindheit hatte, bevor ich adoptiert wurde, waren verschwommen. Doch eines wusste ich sicher: Ich hatte nie das Gefühl gehabt, geliebt zu werden. Nicht so, wie sie Aiden liebten. Und das war eine Wahrheit, die ich lange nicht akzeptieren wollte.

𝐓𝐞𝐭𝐡𝐞𝐫𝐞𝐝- 𝙩𝙤 𝙩𝙝𝙚 𝙈𝙤𝙤𝙣Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt