Tote Mädchen sprechen doch!

131 10 5
                                    

Irgendwie hatte Meredith Bose schon die ganze Zeit das Gefühl, verfolgt zu werden. Egal wohin sie ging. Nicht mal auf der Toilette hatte sie das Gefühl, alleine zu sein. Immer wieder blickte sie sich misstrauisch um. War sie jetzt paranoid? Sie hatte schon viele Menschen gesehen und als Spinner abgetan, die ihr genau ihre Situation schilderten. Wenn man zu viel Zeit mit psychisch kranken verbrachte, wurde man da zwangsläufig auch so? Hoffentlich nicht! Der Fall, in dem sie momentan ermittelte, war schon schwierig genug. Da konnte sie so was wirklich nicht gebrauchen. Die Bilder vom Tatort fluteten unaufhaltsam ihre Gedanken. Ein Kind, nicht älter als acht Jahre, vollkommen skelettiert in einer Grube im Wald. Das einzige, was noch erhalten war, war der Rosenkranz in der Hand. Meredith holte tief Luft. Sie würde nie wieder aufwachen. Nie würde sie zum Abschlussball gehen, nie die erste große Liebe küssen. Nie wieder heimlich die Geschenke vor Weihnachten suchen. Nie mehr. Eine unbändige Wut stieg in ihr auf. Eine Wut, die sie antrieb. Wieder spürte sie Augen auf sich ruhen. Sie straffte ihre Schultern. Keine Zeit für so etwas. Sie musste diesen Fall aufklären. Niemand sollte mit einer solchen Tat ungestraft davonkommen.

Das gesamte Revier war in Aufruhr. Jeder spürte die verzweifelte Wut, die auch Meredith in ihren Besitz genommen hatte. Aber bisher hatten sie noch nicht einmal ihren Namen. Keiner hatte sie als vermisst gemeldet. Verbissen kämpften sie dich durch alle Vermisst-Meldungen, die älter waren als zwanzig Jahre, fragten Leute in der Nähe des Tatorts. Nichts. Als hätte es die Kleine nie gegeben. Es war sehr spät, als Meredith nach Hause kam. Das flackernde Licht des Fernsehers begrüßte sie. Dabei war sie sich sicher gewesen, dass sie ihn ausgeschaltet hatte. Nachrichten flimmerten über den Bildschirm. Bilder vom Tatort. Das Bild des Mädchens wurde eingeblendet. Meredith war an sich den Anblick von Leichen gewöhnt. Auch den von wirklich schlimm zugerichteten. Aber der Anblick des Mädchens verursachet ihr fast körperliche Schmerzen. Und das schlimmste an der ganzen Sache war, dass sie nichts dagegen tun konnte. Sie ließ sich auf den Sessel sinken und vergrub den Kopf in den Händen. Da war dieses Gefühl von einer Präsenz wieder. Als würde jemand hinter ihr stehen und ihr mitfühlend die Hand auf die Schulter legen. Wäre Billy jetzt da ... aber der sah sie ja nicht. Nur als „Kumpel". Jetzt fühlte es sich fast so an, als würde sie jemand in die Seite stupsen. Sie öffnete die Augen und guckte in die Richtung, wo das Gefühl herkam.

„Ahh!" Sie schrie auf. Neben ihr stand ein Mädchen. Beide guckten gleichermaßen erschrocken aus der Wäsche. Das konnte nicht wahr sein. Sie war übernächtigt. Sie hatte Wahnvorstellungen. Sie musste dringend ins Bett. Das kleine Mädchen schien sich mittlerweile von ihrem Schock erholt zu haben, denn sie lächelte Meredith scheu an. „Hallo Miss." Die Kleine hatte eine Zahnlücke und lispelte leicht. Unter normalen Umständen hätte Meredith das insgeheim süß gefunden, aber das hier war nicht real. Überhaupt nicht real. Langsam schloss sie die Augen und zählte bis drei. Vielleicht, wenn sie die Augen öffnete, war es dann weg. Aber sie war immer noch da und lächelte sie zahnlückig an.

„Kannst du mich sehen?"

Meredith schaute sie verstört an. Das Ding sprach mit ihr.

„Miss? Geht es dir gut?" Jetzt schaute es sie mit kindlicher Unschuld besorgt an. Sie sollte wirklich ins Bett gehen. Und eventuell einen Arzt konsultieren. Wie ein Roboter stand sie auf und wankte in Richtung Bad. Die Kleine tappte hintendrein.

„Ich heiße Eva-Rosina und bin sieben Jahre alt. Na ja, war. Bis ich halt gestorben bin. Wie heißt du? Wie alt bist du?"

Ignorieren. Einfach ignorieren. Vielleicht geht es dann weg.

„Du kannst mich doch sehen, oder?" Meredith knallte die Tür vor ihrer Nase zu. Das beeindruckte Eva-Rosina herzlich wenig. Sie ging einfach hindurch.

„Weil das wäre echt cool wenn du das könntest. Das konnte seit hundert Jahren keiner. Ziemlich langweilig. Sag doch was!"

Meredith fuhr herum. „Du bist nicht real! Ich bin nur übernächtigt. Morgen früh wird alles wieder normal sein." Sie bereute es fast, so laut geworden zu sein, denn die Augen des kleinen Mädchens füllten sich augenblicklich mit Tränen. Sie schaute aus großen, schokoladenbraunen Kinderaugen zu ihr auf, die Lippe zitterte wie ein Blatt im harschen Herbstwind.

„Du musst mir aber helfen! Du musst meinen Mord aufklären! Sonst sitze ich hier noch die nächsten hundert Jahre fest! Und das will ich nicht!" Jetzt liefen die Tränen wie Sturzbäche über ihre Wangen.

Meredith konnte den Anblick nicht ertragen. Sie zog ein Kleenex aus der Box und reichte es ihr. Die Kleine schniefte und wischte den Rotz an dem feinen Seidenstoff ihres Kleides ab und kicherte. „Ich bin doch ein Geist, ich kann das nicht halten!"

Meredith schaute perplex auf das Papiertuch. „Oh ..."

Eva-Rosina schaute sich neugierig im Bad um und steckte ihren Kopf in alle Schränke. Schließlich hüpfte sie zu Meredith zurück.

„Schönes Bad! Hilfst du mir jetzt?"

Die Hoffnung, die so hell in den Kinderaugen leuchtete, machte es Meredith, die sonst absolut kein Kindermensch war, unmöglich „Nein" zu sagen.

„Wie soll ich dir denn helfen? Du bist schon seit hundert Jahren ... nun ja, tot."

Die Kleine seufzte.

„Na gut, aber es ist soo langweilig, wenn keiner da ist. Kann ich dann bei dir bleiben?"

Große, braune Augen bohrten sich hoffnungsvoll in die ihren.

Meredith räusperte sich. Es war alles ein bisschen viel auf einmal.

„Also ich muss viel arbeiten. Das ist nicht wirklich kinderfreundlich, dir würde bestimmt ganz schnell furchtbar langweilig werden." Wie kam sie aus der Sache wieder heil heraus? Unruhig fuhr sie sich mit der Zunge über die Zähne.

Die Kleine strahle sie an. „Mir ist alleine sowieso langweilig, aber wenn ich bei dir sein kann, kann ich wenigstens mit dir reden. Außerdem kann ich ja mitkommen!"

Mitkommen. Ja. Klar. Aufs Revier, wo alle ihre Kollegen sie sehen konnte. Sie war kein Kindertyp! Und sie hatte nicht vor, ihr Image in der nächsten Zeit zu ändern. Und wenn sie die einzige war, die Eva- Rosina sehen konnte und die Kleine ihr irgendwas erzählte ... sie würde aussehen, als hätte sie ihren Verstand verloren und würde Selbstgespräche führen. Nein, das war keine Alternative.

„Nein."

„Aber ich kann bei dir bleiben?"

Wenn sie Nein sagte, würde Eva-Rosina bestimmt anfangen zu weinen. Und dann hätte sie schlechtes Gewissen. Aber wenn sie bei ihr bliebe, könnte das eine Menge zusätzlichen Stress bedeuten.

Eva-Rosina schien ihr zögern zu bemerken und schaute flehend zu ihr auf. „Bitte! Du bist so lieb und hübsch und stark, bitte, bitte, bitte!"

Lieb. So würde sie sich selber eher nicht beschreiben. Trotzdem schmolz ihr Herz bei den Komplimenten dahin. Sie war ja noch so klein ...

„Na ja ..."

Die großen Augen fingen das Strahlen an. Aufgeregt hüpfte sie auf und ab.

„Danke! Danke, ich wusste du bist die Beste!" Damit verschwand sie im Wohnzimmer in Richtung des Fernsehers. Meredith starrte die geschlossene Tür, durch die Eva-Rosina gerade verschwunden war, perplex an. Das versprach, eine interessante Zeit zu werden.

Tote Mädchen sprechen doch! (Laura Diamond) *Pausiert!*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt