Sladjana - Zuhause

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Aufgebracht schlug Sladjana das Buch zu und rollte mit den Augen. Wie sollte man sich angemessen über die Unfähigkeit eines Autoren erzürnen, wenn sich zum einen die zunächst herzlose Protagonistin der Geschichte als wesentlich sympathischerer Mensch entpuppte, die sich nach und nach ins Herz einschlich und zum anderen die laute Stimme des großen Bruders einen immer wieder aus der Immersion riss. "Ist Sladjana hier?", fragte Haris autoritäre Stimme. Dann hörte sie das gelangweilte Brummen des Bibliothekars, es folgte ein Dank von Haris und gleich darauf waren seine Schritte zu hören, die sich weiter in die Bibliothek hinein bewegten. Resigniert stand Sladjana auf und strich über ihr Kleid, um den edlen Stoff zu glätten. Als Haris um das Regal trat, welches ihre Lieblingsleseecke vom Rest der Bibliothek abschirmte, stellte die junge Frau das Buch, dass sie vor wenigen Sekunden so rabiat zugeschlagen hatte vorsichtig an seinen Platz zurück. Haris war Sladjanas ältester Bruder, aber nicht das Älteste der sieben Kinder. Sein Haar war von einem dunklen braun, wie das seiner Mutter und das der meisten anderen Kinder der Familie. Er trug eine saubere Hose aus leichtem Stoff und ein helles Hemd. Da er mitten im Gang stehengeblieben war, nahm er mit seinen breiten Schultern fast den gesamten Raum zwischen den eng beieinanderstehenden Regalen ein. "Sladjana! Da bist du ja. Gut, dass ich dich so schnell gefunden habe. Mutter sucht dich!" Erneut verdrehte sie die Augen und seufzte: "Ich habe es mir denken können. Was ist es diesmal? Tanzstunden? Etikett Unterricht? Will sie mir zum hundertsten Male zeigen, was ich nicht eh schon weiß?" Haris verzog das Gesicht, doch an seinen braunen freundlichen Augen und dem leicht gehobenen Mundwinkel, konnte man ein Lächeln erahnen, während er seine Schwester tadelte: "Gut, dass Mutter dich nicht so reden hört. Sie würde vermutlich..." "Entweder in Ohnmacht fallen oder mir androhen meine Statistik-Bücher zu verbrennen." beendete Sladjana den Satz. "Auch das sollte Mutters Ohren fernbleiben. Genau wie der Ort, an dem ich dich wieder einmal aufgelesen habe.". Haris blickte seine Schwester nun tatsächlich lächelnd an während er ihr seinen Arm anbot. Doch bevor sie das Angebot ihres Bruders annahm, verschränkte sie die Arme und fuhr ihn an: "Ich weiß, dass sie es nicht gerne sieht, wenn ich in der Bibliothek bin. Und dass keiner von euch verstehen kann, dass ich mir die Zeit mit Literatur vertreibe." Haris setzte an ihr zu antworten doch sie lies ihn nicht zu Wort kommen. "Ja mir ist ebenfalls bewusst, dass du und Edin das anders seht oder zumindest verstehen könnt, warum ich Romane lese. Aber Edin hat mir gegenüber verlauten lassen, dass er findet ich würde nur staubtrockenes Lehrwerk studieren. Und auch du, Bruder, hast mich mit Unglaube gestraft, als ich dich um deine ehemaligen Schulbücher bat. Und bevor du mir erneut erzählen willst, dass niemand sich freiwillig mit derartigem beschäftige, dann sage mir, mit was ich mich sonst beschäftigen soll. Die hundertste Tischdecke besticken? Hast du schon einmal gestickt? Es ist unheimlich langwierig und dabei ist jeder Schritt immer und immer wieder der gleiche, man könnte es fast als Folter für den Geist betiteln. Ich habe von vielen Arten der Folter gelesen und alle Methoden die auf den Geist abzielen beinhalten eine stetige Wiederholung. Der Geist eines Menschen ist so stark, dass er einen einzelnen Wassertropfen, der immer an die selbe Stelle des Körpers fällt irgendwann, darstellt, als sei es eine Axt. Guck nicht so Haris..." Sie unterbrach ihren Monolog kurz, weil Haris bei ihren Ausführungen über Folter bleich geworden war und sie entsetzt anstarrte, fuhr dann aber dennoch fort. "Wie mir schon so oft gesagt wurde, wenn auch in abfälligem Tonfall, ich bin eine recht intelligente Frau. Und weil ich eben genau diese Eigenschaft erfülle, braucht mein Geist Beschäftigung und da ist es durchaus nicht ausreichend mit Cveta darüber zu sinnieren, wie das Essen schmeckte. Zu erfahren, welche ihrer Freundinnen, welchen Mann am interessantesten findet ist zwar durchaus interessanter, doch auch das ist nicht genug, um die Stickfolter zu vergessen." Bei den letzten Worten schmunzelte sie, sie wusste dass sie gewonnen hatte, nicht zuletzt weil sie genau wusste, dass Haris nie auf die Idee kommen würde Sticken als einen interessanten Zeitvertreib zu deklarieren. Es kam nicht selten vor, dass Sladjana eine derartige Unterhaltung führte, ohne dass ihr Gegenüber zu Wort kam. Die meisten fremden Menschen und vor allem Männer, schreckte dieses Verhalten eher ab, doch ihre Brüder hatten sich mit der Zeit daran gewöhnt. So nickte Haris seiner Schwester nur anerkennend zu und gemeinsam verließen sie schweigend die Bibliothek. 

Che'ira - Vom Hofe zur HexeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt