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Sie stolperte über endlose Brombeerranken und versteckt im Laub liegende Steine, nur der kleine Lichtkegel der Taschenlampe gab ihr die Illusion von Orientierung. Doch die Wahrheit war, dass sie schon nach wenigen Metern nicht mehr wusste, wo sie losgelaufen war. War das der Baumstamm, auf dem sie gesessen hatte, als Lia von ihrer Schwester erzählt hatte? Oder der dort hinten? Melissa konnte es nicht sagen.

Planlos stolperte sie weiter von einem Baum zum anderen und sah dabei kaum, wo sie hintrat. Der unebene Untergrund, die dichten Büsche und die dornigen Ranken bremsten sie aus, rissen an ihrer Kleidung und kratzten an ihrer Haut, sodass sie nur schleppend vorankam. Jeder Baum sah gleich aus und es war unmöglich zu sagen, unter welchen sie bereits nachgesehen hatte.

Sie musste die Suche systematischer angehen.

Wenn sie stets ein paar Meter geradeaus liefe und dann ein Stück daneben die gleiche Strecke zurückginge, könnte sie das Terrain gezielter ablaufen. Das war leichter gesagt als getan, das Gelände zeigte sich zu uneben. Am liebsten wäre sie auf einen der Wege zurückgekehrt, doch würde sie Nicolas dort kaum finden. Immer hektischer stolperte sie durch die Dunkelheit, mehrmals stürzte sie unsanft. Ihre Knie würden am nächsten Tag blau und geschwollen sein.

Selbst mit der Taschenlampe war es unmöglich, den gesamten in Frage kommenden Bereich gründlich abzusuchen und sie wollte Adam nicht unnötig lange schutzlos im Wald liegen lassen.

Was hatte sie sich eigentlich gedacht, was sie tun wollte, wenn sie Nicolas fand? Ihn alleine zum Auto schleifen?

Es war aussichtslos. Sie brauchte Taras Hilfe – so schnell wie möglich. Resigniert steckte sie eine Hand in ihre Manteltasche und suchte nach dem Handy, doch sie fand nur das kleine Messer.

Trotz der eisigen Nachtluft des Waldes überzog plötzlich ein Schweißfilm ihre Haut und ihre Hände fingen an zu zittern. Sie hatte das Gerät eingepackt, sie war sich absolut sicher. Wie oft war sie bei ihrem Gehetze gestürzt? Bestimmt ein Dutzend Mal. Es musste ihr aus der Tasche gefallen sein. Gezischte Flüche krochen aus ihrem Mund, welche ihr Handy jedoch nicht zurückbrachten.

Was jetzt? Zurück zu Adam und abwarten, bis er aufstehen konnte, damit er Nicolas suchte? Seine Sinne waren dafür besser geeignet, aber es konnte Stunden dauern, bis der Vampir wieder einsatzbereit war. Falls Adam eine hohe Dosis des betäubenden Medikaments erhalten hatte – und daran hegte sie keinen Zweifel – dann wären sowohl das blonde Mädchen als auch Melissa selbst vorher erfroren – immerhin sanken die Temperaturen in der Nacht inzwischen regelmäßig unter den Gefrierpunkt.

Sie hatte keine Wahl, sie musste Lia holen und mit ihr den Wagen aufsuchen. Dort würde sie das Mädchen erneut festbinden und warten, bis Adam selbstständig zum Auto laufen konnte.

Melissa änderte die Richtung. Halb blind stolperte sie immer langsamer durch das Gestrüpp, das Licht der Taschenlampe erreichte kaum noch den Boden. Der Schein schwand zusehends – warum hatte sie keine Ersatzbatterien eingepackt? Als sie über einen kantigen Stein steigen wollte, flackerte der Lichtkegel auf und erlosch komplett. Aller optischen Eindrücke beraubt, schwankte sie und konnte es nur mit Glück vermeiden, mit dem Fuß an einer Wurzel hängen zu bleiben und zu stürzen. Ihr Puls hämmerte in ihren Ohren, und sie versuchte verzweifelt, im kläglichen Rest des Mondscheins, der sich durch das Blätterdach kämpfte, etwas zu erkennen.

Schritt für Schritt arbeitete sie sich vorwärts, nicht wissend, ob sie sich wirklich in Lias Richtung bewegte. Spitze Äste, die sie nicht kommen sah, streiften ihr Gesicht und ritzten feine Kratzer in ihre Gesicht, ihre Füße hatten Mühe, sich den unebenen Boden anzupassen und sie verlor fast einen Schuh an einer Baumwurzel. Wieder trat sie auf einen großen Stein, fand Halt, machte einen weiteren Schritt und rutschte auf glitschigem Moos über eine runde Felskante – ins Leere.

♥︎Bad Salvation♥︎ - The Girl And The VampireWo Geschichten leben. Entdecke jetzt