Einem glühendem Feuerball gleich versank die Sonne am Horizont und sandte ihre letzten goldenen Strahlen über die Felder, Wiesen und Wälder. Verträumt das Schauspiel betrachtend saß eine Katze auf einem alten Schuppen, die Wärme des blendenden Lichts genießend. Rotgolden glänzte ihr hell gesprenkeltes Fell, ihre grünen Augen glühten wie Blätter, die von der Sonne durchschienen werden.

"Adely?"

Adely fuhr herum. Hinter ihr war ein schlammgrauer Kater auf das baufällige Dach geklettert. Über zerbrochene Dachschindeln schlitternd stakste er auf sie zu. Schlammgrau war eigentlich keine Farbe, aber viele Streuner dachten so, um schlammbraun und rattengrau zusammenzufassen, denn so sah das Fell des lernenden Pfote aus.

"Was ist?" wollte die Königspfotin wissen.

"Mais braucht dich in dem Waschhäuschen. Flummi ist weg, und Caro hat ein Gewitter vorausgesagt." informierte sie Charlie.

"Caro ist-" begann Adely, als Charlie ausrutschte und überrascht aufschrie und verschwand. Ein paar Dachschindeln lösten sich und krachten zu Boden. "Vorsicht!" rief Adely erschrocken und stürzte zu dem Loch, in dem der Kater gelandet war.

"Charlie?"

"Hm-hm?" machte es in der Dunkelheit unter ihr. Adely nahm ihren Mut zusammen und sprang hinein. Sie landete auf harten Fliesen. Schnell gewöhnten ihre Augen sich an die Dunkelheit und sie erkannte Charlies Schweif, der aus einem merkwürdig geformtem, hohen Ding hing, das aussah wie ein Baumstamm.

"Charlie?" fragte sie unsicher.

"Adely?" erklang Charlies ängstliche Stimme. "Kannst du mich hier herausholen?"

"Ich kann es versuchen...Natürlich." Adely sondierte die Umgebung, dann sprang sie auf den alten Holztisch, der neben dem rundem Ding stand. Das Ding war dummerweiße ein wenig höher, also visierte sie den Schrank danneben als Ziel an und sprang.

Das alte Holz knirschte und knackte. Schnell angelte die graue Kätzin nach Charlie und erwischte sein Fell mit den Krallen. In  dem Ding war es finster wie eine sternenlose Nacht, aber sie versuchte, nicht daran zu denken. Mit geübten Pfoten zog sie Charlie heraus wie ein Kätzchen und platzierte ihn neben sich auf dem Schrank.

Charlies Fell war rußgeschwärzt, er hatte nervös die Ohren angelegt. "Da drin war es wahnsinnig finster...Woher wusstest du, wie du mich am besten rausbekommst? Ich hätte Panik gekriegt und wäre abgehauen..."

Adely schnurrte amüsiert und sprang vom Schrank auf den Boden. "Komm erstmal raus aus dem Schuppen."

Charlie nahm den Umweg über den Tisch, dann lief er zur Tür. Sie war genauso kaputt wie die anderen Sachen, und die beiden Katzen schlüpften durch ein großes Loch hinaus.

Seite an Seite rannten sie durch die Abenddämmerung in Richtung Lager. Adely erzählte: "Mond und Frost sind einmal ausgerissen und in eben diesem Loch gelandet. Sie herauszubekommen war schwieriger, aber du bist ja nicht so klein. Wir können nur froh sein, dass der Schrank das ausgehalten hat-"

Unterbrochen wurde sie von Myrrah, Charlies Halbschwester die auf sie zugestürzt kam. "Da seid ihr ja endlich! Los, Styx hat eine Versammlung einberufen!"

"Und was ist mit Flummi?" wollte Adely wissen.

"Was soll mit ihm sein?" Verständnislos sah Myrrah sie aus ihren kornblumenblauen Augen an.

"Du bist Späherin!" Vorwurfsvoll musterte Adely die jüngere Kätzin. "Charlie hat erzählt, dass er verschwunden ist."

"Verschwunden ist vielleicht nicht das richtige Wort." bemerkte Charlie, "Aber Mais macht sich Sorgen."

"Sie macht sich immer Sorgen." entgegnete Myrrah ungeduldig. "Jetzt kommt endlich, es ist wichtig."

Charlie warf Adely einen Blick zu, dann trat er vor. "Adely, geh zu Mais. Ich sage Styx, wo du bist." Dann lief Styx' Ziehsohn an seiner verdutzten Halbschwester vorbei in die Gasse hinein, die das Lager der Streuner war. Er sah Adely das Waschhäuschen aus Stein betreten, dessen linke Seite offen war. Efeu rankte sich an den Wänden empor. Das Häuschen, Waschhäuschen wegen dem flachem Wassertrog genannt, war einer der sichersten Orte der Gasse.

Charlie hörte schon Styx' Stimme von der alten Scheune, der ihnen gehörte. Er bog um die letzte Ecke und erblickte die versammelten Katzen. Mais, Frost, Flummi, Mond und Adely waren nicht dabei.

Styx, sein Ziehvater, saß auf dem Vordach des Holzhauses. Er hob den Blick sofort, als ob er Charlies schritte erkannt hatte. Sein durchdringend gelbes, eines Auge musterte ihn ausdruckslos. "Setz dich. Du hast nicht viel verpasst."

Charlie gehorchte und setzte sich zu den Lernenden Pfoten. Bei ihnen waren Perle und Igel, Lexi fehlte.

"Wie einige von euch vielleicht bereits gehört haben, hat Caro ein Unwetter angekündigt." verkündete Styx. Die Dämmerung warf dunkle Schatten auf sein Gesicht.

Caro sprang auf das Dach. Die alte, graue Kätzin musterte die Streuner aus ihren hellblauen Augen. "Die Wolken", sie zeigte mit dem Schweif auf die Schleierwolken am Himmel, "haben mir mitgeteilt, dass etwas auf uns zukommt." Ihr Gesicht wirkte besorgt, so besorgt, wie Charlie sie noch nie gesehen hatte. Ihre blassblauen Augen leuchteten kummervoll wie zwei Wassertropfen aus Nebel.

"Morgen werden sich dunkelblaue Wolken am Horizont auftrümen. Sturm kommt auf, er bringt Regen und Hagel. Ein Gewitter wird den Himmel spalten." berichtete sie mit verschleiertem Blick.

Igel stupste Charlie an. Die Augen der jungen Kätzin waren verängstigt. "Was, wenn es zu einer Überschwemmung kommt?" wisperte sie.

Charlie erwiderte nichts, sein Blick war auf Styx gerichtet. Der schwarze Kater ergriff wieder das Wort.

"Soald die ersten Regentropfen fallen, versteckt ihr euch an einem sicheren Platz. Schlangenbiss, Natternauge, Rubin - ihr jagt, bis der Mond aufgeht. Bringt die Beute in der Lehmgrube unter, damit wir genug davon haben. Morgen kann niemand jagen. Cleo, Chantal, Eisenherz, Sand, ihr geht die Grenze ab, falls die Westpfoten auf die Idee kommen, morgen anzugreifen. Myrrah, Asche, Morgenzorn, ihr haltet Ausschau, ob sich erste Anzeichen von einem Wetterumschwung zeigen."

"Das wird entspannt!" wisperte Asche Charlies Mentor Morgenzorn zu.

"Und was ist mit den Lernenden?" wollte Flechte wissen. Der Heilende Pfote saß auf dem Fensternbrett des Vordachs, neben ihm Fleck, seine Schülerin, die sich deutlich fehl am Platz fühlte.

"Richtig. Jäger, ihr nehmt Perle mit. Kämpfer, ihr nehmt Lexi mit, und die Späher übernehmen Charlie."

"Lexi ist nicht da." erinnerte die Zweite Pfotin Neoly ihn. "Sie hat den Auftrag."

"Richtig." Styx' Blick verlor sich kurz in der Ferne, und Charlie fragte sich unwilkürlich, warum sein Ziehvater so zerstreut war in letzter Zeit.

"Dann nehmt ihr Igel mit." beschloss er. Igel riss erschrocken die Augen auf, aber Styx sprach schon weiter.

"Die Königspfoten passen auf die Jungen auf, lasst sie nicht zu weit weg. Flechte, Fleck, ihr haltet euch bereit." 

Neoly wisperte Styx etwas zu. Der Kater nickte. "Charlie, hol Mais und Adely."

Charlie nickte, zum Zeichen, dass er verstanden hatte, dann machte er sich auf den Weg zum Waschhäuschen. Die Straße unter seinen Pfoten war gepflastert und holprig, zwischen den Steinen wuchs büschelweiße Unkraut, aber das war den Streunern lieber als die tödlichen, sauberen Donnerwege der Zweibeiner hinter dem Westpfoten-Territorium.

"Mais? Adely?" Charlie lugte in das dunkle Steinhaus hinein. "Frost? Mond? Flummi?" Aber die Nester an der Nordseite waren leer. Allerdings blitzten helle Fellfetzen im Efeu auf. Charlie witterte und roch die Königspfotinnen und ihre Jungen. Sie waren noch nicht lang weg. Also folgte er ihrem Geruch, bis er Stimmen vernahm.

"...wir haben ihm noch gesagt, dass das Wahnsinn ist, aber er hat nicht gehört!" erzählte Frost aufgeregt. Mond schien zuzustimmen, denn er berichtete: "Flummi ist einfach gegangen, nur weil Caro gesagt hat, dass das Gewitter den Westen am stärksten trifft."

RatteWhere stories live. Discover now