Schatten

8 0 0
                                    


Die Welt vor meinen Augen wabert im Nebel. Die Schwaden verweben sich zu einem unendlich dichten Netz und ich sehe nur noch Konturen meiner Umwelt. Etwas flüstert aus der Ferne, ruft meinen Namen und scheint meine Sprache zu sprechen, doch ich verstehe es nicht. Ich meine auf einem Pfad zu sein, dessen Anfang und Ende ich nicht erkennen kann. Aus der Ferne höre ich ein Zischen, dann ein leises Tapsen und Rascheln. Meine Beine setzen sich in Bewegung, ich muss den Ausgang finden. Je weiter ich laufe, desto weniger sicher bin ich mir über die Beschaffenheit dieses Ortes. Wo ist links? Rechts? Oben oder unten? Ab und zu nimmt der Nebel Formen an. Ein Wolf der über eine Schafsherde herfällt. Ein Loch, das sich kurz öffnet und dann wieder schließt. Ein brennendes Haus, das in sich zusammenfällt und wieder aufgebaut wird; hunderte tiefrote Garnelen, die aus dem Inneren hervorbersten und das Haus zum Explodieren bringen. Und dann wieder das Tapsen hinter mir. Stimmen im Nebel um mich herum, die aufgeregt etwas besprechen und dann ein Schrei, der den Nebel auflöst. Ich, auf einem Pfad, und um mich herum nichts als Dunkelheit, keine Gegenstände und keine Natur. Alles tot. Ich bin allein.

Es ist, als hätte mir jemand Eisenbarren auf den Rücken gelegt und würde mich auf den Boden pressen, als ich die Präsenz spüre. Etwas ist hinter mir. Und noch bevor ich mich umdrehe, merke ich, dass das Flüstern verschwunden ist.

Es hat keine Gestalt. Wie ein sich bewegender großer Fleck ragt es über mir. Keine Geräusche gehen davon aus. Ich renne und das Ding hinter mir her. Es nimmt verschiedene Formen an, beugt sich mal weit über mich oder scheint wie eine Pfütze unter mir mitzulaufen, während es mit tausenden Armen nach mir greift. Ich renne, renne davon; vor einem Schatten. Ein geballtes Etwas aus purer Dunkelheit, das tagsüber in den tiefsten Ecken meiner Gedanken sitzt, um dann nachts seine Krallen tief in mein Fleisch zu schlagen; dann, wenn ich am wehrlosesten bin, dann wenn ich am wenigsten damit rechne, versucht es mich zu packen. Ich will keine leichte Beute sein, also renne ich. Es hat kein Gesicht, seine gesamte Gestalt ist absolute Schwärze. Was hineingesogen wird, kommt nie wieder hinaus. Hat es einen Sinn zu rennen, oder war ich bereits in dem Moment verloren, als es sich in meinem Kopf eingenistet hatte?

Ich hatte es begrüßt wie einen Freund, wollte, dass meine Gedanken in einem Dunst aus Schwärze erstickt werden, und dabei hatte es sich an mir gelabt. Jede Enttäuschung, jede Zurückweisung, jeder Fehlschlag hatten es genährt. Aber nicht, weil es bösartig war, sondern weil ich es als Teil meiner Selbst akzeptiert habe. Freiwillig.

Ich renne und werfe nun einen Blick hinter mich. Es ist verschwunden. Mein Herz rast und ich atme unregelmäßig. „Es ist vorbei, du bist entkommen!" sage ich mir und schließe dabei die Augen. Als ich sie wieder öffne, starre ich in die Fratze der Dunkelheit. Ohne es aktiv mitzubekommen, ergehe ich in der Umarmung des Schattens, ich verliere die Kontrolle über meinen Körper und falle. Falle in die Dunkelheit um mich herum. Wo ist links? Rechts? Oben oder unten? Diese Schlucht hat keinen Boden und ich falle.

Als ich aufwache weiß ich, dass ich den Boden der Schlucht erreicht haben muss. Die Ruhe, die ich fühle, scheint durch nichts aufgebrochen werden zu können. Unter mir ist mein Bett und hinter mir mein Schreibtisch. Und vor mir die Tür. Sie steht offen. Komplett offen. Wieso? Wieso steht sie offen? Sie müsste... geschlossen sein. Ich schlafe nie mit geöffneter Tür. Und auf einmal verstehe ich, dass ich allein bin. Gefangen. Der Schatten liegt auf mir, umarmt mich, wird mit jeder Sekunde schwerer und schwerer, presst mir die ganze Luft aus der Lunge. Ich ringe nach Atem. Wie konnte es mich in diese Welt begleiten? Wilde Gedanken tauchen auf und ich merke, wie ich panisch werde. Ich kämpfe dagegen an, stoße es von mir, fuchtle wild mit den Armen, doch es bewegt sich kein Stück von mir. Nein, im Gegenteil, es saugt die Energie auf, die ich von mir gebe, um noch größer zu werden, denn ich bewege mich gar nicht. Ich bin wie paralysiert. Mein Kampf gegen den Schatten war pure Einbildung gewesen, eine Illusion. Ich will schreien. Es ist ein Schrei in die Leere, ein Schrei, der nirgendwo ankommt, der nie losgesendet wurde, denn ich spüre meinen Körper nicht. Die Matratze hat sich mit Schwärze vollgesogen und ich schreie. Die Tür steht doch offen. Wieso kann mich keiner hören? Helft mir doch! Seht ihr nicht wie ich dagegen ankämpfe? Noch ein Schrei in das Nichts und dann gebe ich auf. Der Schatten hat Recht mich in seine Umarmung mitzunehmen. Es ist es nicht wert. Ich bin es nicht wert. Es kommt doch keiner mir zu helfen. Schließlich habe ich den Schatten doch zu mir eingeladen, ihn als Freund begrüßt. Er ist es, der mir helfen wird, mich mitnehmen wird, ein Leben ohne Leid zeigen wird. Ich kämpfe nicht mehr dagegen an.

Stille um mich herum. Nichts passiert und das obwohl ich bereit war dem Schatten überall hinzufolgen. Der Druck auf meiner Brust löst sich und ich atme frei. Ich schlage die Augen auf und da sitzt er mit großen Augen und selbst nach Luft schnappend, auf meiner Bettkante. „Hattest du einen Alptraum?" fragt er „Du hast immer wieder den Mund und die Augen aufgerissen und geschlossen." „Ja... nein, da war dieser Schatten auf mir" sage ich und schaue im Zimmer herum. Alles wie immer. „Ein Schatten? Du hast so laut geschrien, dass ich aufgewacht bin." „Tut mir leid" sage ich. Er klettert zu mir ins Bett und küsst mich. Ich liege mit dem Rücken zu ihm. Eine Weile liegen wir so da und ich glaube schon er sei bereits eingeschlafen, als er den Arm um mich legt. Ich fange an schwer zu atmen. Panik steigt in mir auf und meine Gedanken fliegen durcheinander. Nebel. Ein Pfad unter mir und ein Flüstern aus der Ferne, ein brennendes Haus, das in sich zusammenfällt und wieder aufgebaut wird; hunderte tiefrote Garnelen, die aus dem Inneren hervorbersten und das Haus zum Explodieren bringen. Sein Arm beginnt in mich einzusinken und mich zu umhüllen.

Ich habe keinen Freund, ich wohne allein.

SchattenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt