Seelenarchiv - Wächter der Erinnerung

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Wie sie hierhergekommen war, konnte sich Clara im Nachhinein selbst nicht ganz erklären. Ein Traum war damit verbunden gewesen, letzte Nacht, soweit sie sich erinnern konnte. Sie hatte durch eine Bibliothek gestreift, vorbei an Regalen, die sich bis zur Decke erstreckten, gefüllt mit Büchern in allen Farben und Formen. Aber auch diese Erinnerung verblasste, genau wie alle anderen, seit sie diese seltsame Tür mitten im Nirgendwo erreicht hatte. „Seelenarchiv" war in kunstvoller Schrift in den verzierten Türrahmen eingebrannt worden. Als Clara einen weiteren Schritt in Richtung der Tür machte, konnte sie erkennen, dass Efeu an ihren Seiten emporwuchs und der Türknauf sich ihr in Form einer Hand entgegenstreckte. Nur zögerlich ergriff sie diese, um die Tür aufzuziehen und mit vorsichtigen Schritten ins Innere zu treten.

Dort befand sie sich nun, in der Bibliothek ihrer Träume, mit langsam schwindender Erinnerung, jedoch wachsender Neugier. Anders als in ihrem Traum konnte sie die Bücher nun genauer betrachten; jedes einzelne war von Hand beschriftet und verziert worden, die Buchrücken trugen merkwürdige Namen wie „Helios' Horizont: Seiten eines Lebens" oder „Das Licht der Sophia: Eine Reise in die Welt der Stille". Immer tiefer wagte sich Clara ins Innere, schritt Reihe um Reihe hinab, studierte Buchrücken und suchte nach etwas, das ihr einen Hinweis auf den Grund für ihre Anwesenheit hier geben konnte.

Schließlich war es eine sanfte Stimme, die sie aus ihren Gedanken riss: „Wenn du dich fertig umgesehen hast, kannst du dich gerne zu mir gesellen, aber lass dir ruhig Zeit, hier gibt es keine Hektik." Sie kam vom Ende des Ganges, und als Clara um die nächste Ecke blickte, sah sie auf einen alten Mann, der leicht gebeugt an seinem Schreibtisch saß. Als sich ihre Blicke trafen, lächelte er erfreut: „Wie schön, dass du tatsächlich gekommen bist, Clara. Ich hatte mir schon Sorgen gemacht, du könntest dich doch noch umentscheiden."

Claras Herz schlug schneller, als sie den alten Mann ansah, der so vertraut und doch so rätselhaft wirkte. „Keine Sorge", erwiderte sie mit einer Stimme, die fester klang, als sie sich fühlte, „ich bin hier, um Antworten zu finden, und ich hoffe, Sie können mir dabei helfen."
„Natürlich", antwortete dieser sofort, „du musst ja so viele Fragen haben, aber wie wäre es, wenn du dich erst einmal setzt und einen Schluck Tee trinkst?" Fast schon nachlässig winkte der alte Mann mit seiner Hand, und ein Stuhl sowie zwei Tassen dampfenden Schwarztees erschienen. „Zucker oder Milch?", fragte er, während er sich selbst einen Würfel Zucker aus einer kleinen goldenen Dose in den Tee rührte.

Clara lehnte nur höflich ab, während sie Platz nahm und den Mann vor ihr aufmerksam betrachtete. Er trug einen schwarzen Rollkragenpullover und eine schlichte Uhr am linken Handgelenk. Sein Haar war bereits ergraut, Lachfältchen hatten sich um die braunen Augen und den Mund gebildet, sein gesamtes Erscheinungsbild erinnerte sie an einen freundlichen Großvater.

„Also", hakte sie nach einigen Sekunden der Stille nach, „wer sind Sie, und warum haben Sie mich erwartet?"
„Mein Name ist Miguel, doch die Mehrheit kennt mich nur als 'den Schreiber'", erwiderte er, „ich habe dich hierher gebeten, um dich zu meiner Nachfolgerin auszubilden." Natürlich hatte Clara bereits von dem Schreiber gehört; es war ein altes Märchen aus ihrer Kindheit gewesen, das sich nun wieder in ihr Bewusstsein drängte, scharf zwischen den sonst so verschwommenen Erinnerungen. Die Sage handelte von einem alten Mann, der in einer verborgenen Bibliothek das Leben der Menschen in Worte fasste und ihre persönlichen Geschichten für die Ewigkeit festhielt. Nur war es eben ein Märchen gewesen, eine Geschichte für Kinder, um ihnen zu zeigen, dass sie niemals vergessen werden würden.

Doch jetzt stand der alte Mann aus jener Geschichte vor ihr, warm lächelnd, den Blick erwartungsvoll auf sie gerichtet. „Ich soll Ihre Nachfolgerin werden", wiederholte sie zögerlich seine letzten Worte, „wie stellen Sie sich das vor, wie soll ich vom Leben anderer Menschen schreiben, wenn ich mich doch im Moment kaum mehr an mein eigenes erinnern kann?"
Der Ausdruck auf Miguels Gesicht blieb unverändert warm, als er zu einer Erklärung ansetzte. „Das ist Teil des Prozesses, du musst dich selbst vergessen, um dich dem Leben anderer Menschen zu widmen. Nur so kannst du dich in sie hineinversetzen, ihr Leben und ihre Erfahrungen so nachfühlen, dass du sie schließlich in eine detaillierte Geschichte ihres Lebens verwandeln kannst. Alles, was es dafür braucht, ist eine verständnisvolle Seele und ein aufmerksamer Geist, beides Eigenschaften, die du besser als jeder andere erfüllst. Es wird dir helfen, die Leben der Menschen in dich aufzunehmen, denn das ist es, was einen Schreiber ausmacht, er wird eins mit der Person, über dessen Leben er schreibt."

Die Worte des alten Mannes schmeichelten Clara auf seltsame Weise, es fühlte sich richtig an, seine Einladung anzunehmen und ihre Lehre hier im Seelenarchiv zu beginnen. Ihre Erinnerungen waren zu blass, als dass sie etwas hätte, dem sie nachtrauern könnte, der Geruch der Bücher, das warme Licht in dieser Bibliothek zu einladend, um dieses Angebot abzulehnen.
So fragte sie nur: „Was muss ich tun, wenn ich die nächste Schreiberin werden will?"

Miguel griff in eine Schublade unter dem Schreibtisch und zog eine Flasche gefüllt mit einer silbernen Flüssigkeit sowie einen kleinen goldenen Dolch hervor. „Nur dies hier trinken, es öffnet deinen Geist und bereitet dich auf die Reise vor." Mit zittrigen Händen zog er den Korken aus der Flasche und ergriff den Dolch. Zu Claras Schrecken setzte er diesen an seinem Handballen an, schnitt sich tief in die eigene Haut und ließ das Blut der Wunde in die Flüssigkeit tropfen. „Mein Blut gegen deins", erklärte er, als sich die Flüssigkeit rötlich zu verfärben begann, und reichte ihr Dolch und Flasche, „es ist nötig, um den Übergang herbeizuführen."Clara folgte seinem Vorbild und sah zu, wie auch ihr eigenes Blut sich mit dem Silber mischte. „Nun musst du das Ganze nur noch trinken", inzwischen war das Gesicht Miguels ernst, „du musst es trinken und dann schlafen, denn dein Geist wird Zeit brauchen, um all das Neue zu verarbeiten."

So setzte Clara die Flasche an die Lippen und trank sie in langsamen Schlücken. Die Flüssigkeit war kühl, ihr Geschmack kühl, wie das Wasser eines Bergbachs und leicht süßlich. Fast unmittelbar nachdem sie die Flasche geleert hatte, wurden ihre Augen schwer und während sie wegdämmerte, glaubte sie noch zu erkennen, wie der alte Mann langsam verblasste. Er schien sich aufzulösen, eins zu werden mit der Wärme dieser Bibliothek.
Dann verschwamm alles und Clara versank im Land des Schlafes. Als sie ihre Augen wieder aufschlug, wusste sie nicht, wie viel Zeit vergangen war. Doch es war auch nicht wichtig, Zeit hatte keine Bedeutung mehr, alles, was jetzt noch zählte, war das Schreiben.
Und so holte Clara Papier und einen Füller unter dem Schreibtisch hervor und begann ihr erstes Buch. „Im Gewebe des Universums ist jedes Leben ein einzigartiger Faden – so auch das von Miguel, dessen Muster sich zwischen Chaos und Ordnung, Zufall und Schicksal entfalteten..."


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⏰ Letzte Aktualisierung: Jun 11 ⏰

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