»Du wolltest doch«, ich spüre Kims Augenpaar wie zwei glühende Punkte auf mir kleben, »dass ich ehrlich antworte.« Wider Erwarten der gesprochenen Worte und des in mich reinfräsenden Blicks spricht Kim in einer Tonlage, die mich frösteln lässt.
Kim sagt das so, als würden wir über etwas Belangloses daherreden, was mich zum Umdrehen animiert – weg vom schaurig faszinierenden Straßenverkehr. Kim zuckt mit den Achseln.
»Schon«, gebe ich zu. »Aber ...« Mit hängenden Schultern breche ich ab. Was kann ich bloß noch sagen?
»Aber was, Flo?«, hakt Kim fordernd nach.
»Seit wann?«, entschlüpfen mir diese zwei Worte, hinter denen so viel mehr steckt. »Seit wann denkst du so?«, verlange ich zu wissen. Und gleichzeitig bestrafe ich mich hierdurch: Wie konnte ich das nicht mitbekommen? Ich habe es nicht einmal gespürt. Kim sieht so normal aus ...
»Keine Ahnung, eine Weile, ich schätze ...«, tröpfeln die Worte aus Kim heraus, der Ton nun einen Hauch umwoben von Schwere, Wehmut vielleicht. »Aber warte. Bei dir klingt das so, als wäre es nur eine Phase oder so. Etwas wie die Pubertät.«
Ohne es zu wollen, muss ich leicht grinsen. Die Art der Antwort ist so typisch Kim. Gerade so kann ich mich noch zurückhalten, aus lauter Gewohnheit etwas Geblödeltes zu erwidern.
Ach verdammt. Fünf Jahre Freundschaft sollen jetzt einfach der Vergangenheit angehören? Blinzelnd – verflucht sei der Druck hinter den Augen – wende ich mich wieder ab.
»Alles okay?«, fragt Kim nun ernsthaft.
»Ja, ja. Klar. Du weißt schon, die späte Pubertät oder so«, fällt mir als Erstes ein, nicht sonderlich hilfreich. »Vermutlich wohl eher die Abgase, die meine Augen reizen. Kennst mich doch«, füge ich eilig und abgehackt ran, wobei da vieles Wahres dran ist. Die Grenzen verschwimmen jedoch immer mehr.
Kim kennt mich, ich kenne Kim – beziehungsweise kannten wir uns. Und die Abgase, dessen Gestank ich gar nicht mehr wahrnehme, in der Kombination mit dem Blütenstaub ziehen einem – mindestens gefühlt – alle Flüssigkeiten aus dem Körper.
»Übrigens«, setze ich erneut an, als mir schlagartig wieder bewusst wird, um was es hier eigentlich geht. »Es wäre zu hoffen mit der Phase.«
Auch Kim hat sich gefasst und sich zurück in die stramme Haltung eingefunden. »Zu hoffen wäre etwas ganz anderes.«
Bumm – so kann ein melancholischer Augenblick natürlich auch aufgelöst werden. »Echt jetzt? Wie ...«
Ich stoppe, da ein Vater mit Kinderwagen und zwei weiteren Kindern näherkommt, und wir ihnen Platz machen. Sie gehen durch die entstandene Lücke zwischen uns hindurch. Da mir das eine Kind zuwinkt, grüße ich sie alle freundlich, während Kim vor sich hin grummelt.
»Was ist denn jetzt dein Problem gewesen?«, will ich wissen, nachdem die Familie um die Ecke verschwunden ist.
»Drei Kinder ...« Kim schnauft dramatisch.
»Ja und?«
»Bestimmt leben sie auf unsere Taschen.«
»Unsere Taschen?« Ich blicke Kim eindringlich an, das kann doch unmöglich ernst gemeint sein, Kim ist doch nicht dumm. »Erstens wissen wir nicht, wie die Familie lebt. Zweitens kann jeder in Arbeitslosigkeit geraten ... Ich bin noch nicht fertig, Kim! Aus ganz unterschiedlichen Gründen können Menschen in solche Lebenslagen kommen. Drittens ...« Rasend muss ich wie ein Nashorn schnaufen und meine Fingernägel graben sich Millimeter für Millimeter weiter in die Haut meiner Handinnenflächen. Durch mein Gehirn fliegen so viele Argumente, doch sie lassen sich nicht mehr alle greifen.
»Und ganz ehrlich, Kim. Wir beide gehen noch nicht mal arbeiten. Wir sind auf der Suche nach einer Ausbildung oder einem Studium und leben jetzt und dann ebenso auf irgendwelcher Taschen. Also noch einmal: unsere Taschen?«
»Du weißt ganz genau, wie ich das meine«, gibt Kim stöhnend von sich.
Obwohl ich mir leider denken kann, was für absurde Gedanken in Kims Kopf abgehen, behaupte ich: »Nein, erkläre es mir.«
DU LIEST GERADE
Nie wieder!
Short Story◦𝗞𝘂𝗿𝘇𝗴𝗲𝘀𝗰𝗵𝗶𝗰𝗵𝘁𝗲◦ Eine Freundschaft am Scheideweg, doch handelt es sich hier um so viel mehr. Nie wieder darf es 𝘥𝘢𝘻𝘶 kommen, meint Flo. Doch Kims Gedanken driften in andere Gefilde. Eine Geschichte mit zwei Personen, deren Einst...