Kapitel 1 Kiyoshi

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Kiyoshi

An einem stürmischen Herbstabend jagten die weißen, grauen und fast schwarzen Wolken wie getrieben über den Himmel. Das graue Wasser glich Joschis Laune. Er saß am Kiesstrand und genoss die kleinen, tosenden Wellen, die mit einer Gewalt ans Ufer rollten, die man diesem Gewässer nicht zugetraut hätte. Er lächelte grimmig. Es gab so viele Menschen, die die Kraft des Flusses unterschätzten. Wie ihn. Der heftige Wind fegte durch seine Kleidung und gab ihm das Gefühl, nackt zu sein. Manchmal schnitt er wie Eisregen auf der Haut. Aber genau diesen Schmerz wollte Joschi. Er brauchte und genoss ihn auf eine sehr verdrehte Art. Alles war besser, als sich selbst zu verletzen. So ließ er die Kraft der Natur auf sich wirken und starrte gedankenlos aufs Wasser.Jetzt war er frei, und doch fühlte er sich mehr denn je angekettet. Wie ein Tier, das in einem viel zu kleinen Käfig auf und ab läuft, um nicht verrückt zu werden, riss der Tiger in ihm an den Fesseln, die er sich selbst angelegt hatte. Noch halbherzig. Aber wenn er das wilde Tier in sich nicht bändigte, würde es ausbrechen und die Kontrolle übernehmen. Und wie das aussehen und enden würde, wusste er nur zu gut.Der Tiger würde Joschi völlig verdrängen und sich in den Vordergrund drängen. In diesem Zustand kannte er keine Gnade, keine Vergebung. Nur Beute, Zerstörung und Blutdurst regierten dann in ihm. Er setzte diese Fähigkeit gegen seine Feinde ein, aber er mochte es nicht, keine Kontrolle mehr über sich zu haben. Und doch war der Tiger so oft seine Lebensversicherung gewesen. Sein einziger Halt. Seine einzige Konstante.Irgendwann erhob er sich mit steifen Muskeln. Er war durchgefroren, aber sein Geist war ruhiger und der Tiger war eingeschlafen. Gutes Tier. Joschi wusste, wie er ihn beruhigen konnte. In all den Jahren hatte er sich Techniken dafür angeeignet.Seine Schuhe knirschten unter dem Kies, als er den Weg zum Deich zurückging. Einen letzten Blick warf er auf den Fluss, der im Schein des aufgehenden Mondes vor ihm lag. Wasser war eines der wunderbarsten Elemente auf diesem Planeten. So sanft und gleichzeitig so mächtig. Je nach Laune der Natur. Er machte sich auf den Rückweg und joggte die fünfzehn Kilometer in einer guten Zeit. Sein Blick fiel auf die Uhr, es war erst neun Uhr abends. Noch früh genug, um seinem Bruder Ichiro zu einem Besuch abzustatten.Als er den Laden betrat, war noch viel los. Sein Bruder stand an der Theke und schenkte aus. Er sah ihn an und er zog kaum merklich eine Augenbraue hoch.Joschi wartete, bis die Kellnerin mit dem Tablett im Gastraum verschwunden war.»Wie siehst du denn aus?«, fragte Ichiro und musterte ihn.»Wie immer«, brummte Joschi zurück und zuckte mit den Schultern.Sein Bruder schenkte ihm ein Glas Wasser ein und schob es ihm hin. »Hunger?« Er nickte und trank, ohne auch nur einmal abzusetzen.»Ich werde dir etwas organisieren. Aber du musst entweder in der Küche essen oder es dir mitnehmen. Die Tische sind alle besetzt.« Joschis Blick wanderte durch den Raum. Es war wirklich alles voll.»Packst du mir das bitte ein?«Wieder traf ihn der Blick aus den braunen Augen, die ihn so sehr an seinen Vater erinnerten.»Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist. So wie du aussiehst ...« Er ließ den Satz unvollendet. »Mir geht es gut. Mache dir keine Sorgen«, erwiderte er unwirsch. Diese ständigen Diskussionen waren im zu wider.»Das bezweifle ich. Ich hoffe, du weißt, was du tust.« Ichiro deutete auf den freien Stuhl in der Ecke des Tresens. »Setz dich. Ich bin gleich wieder da.«»Danke, ich stehe lieber.«»Auch recht.«Damit wandte er sich ab und ging in die Küche.Joschi atmete tief durch und schloss für einen Moment die Lider. Er wusste, dass sein Bruder sich nur Sorgen um ihn machte. Aber er war jetzt alt genug, um sein Leben allein zu meistern. Er wollte und brauchte den Schutz seines großen Bruders nicht mehr. Es war an der Zeit, sich selbst zu behaupten.

SakuraWo Geschichten leben. Entdecke jetzt