HURT

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Sein Erbe

Andreas Weniger wurde sich bewusst, dass er nun ganz allein auf der Welt war. Das Verhältnis zu seiner Mutter hätte besser sein können; aber sie war dagewesen, und er hatte... hätte jederzeit mit allem zu ihr gehen können. Zudem war sie ihm damals, in der schwersten Zeit seines Lebens, als er schon einmal geglaubt hatte, ganz allein zu sein, eine wirkliche Stütze gewesen. Und jetzt auch noch das da; abermals betrachtete er den Kontoauszug. Schwarz auf weiß auf Thermopapier aus dem Kontoauszugsdrucker, mit dem Rollator hin und mühevoll wieder zurück, dann säuberlich abgeheftet. Vielleicht ja mit dem Stolz, trotz ihrer kleinen Rente so viel gespart zu haben, und der heimlichen Vorfreude, 'dem Jungen' das alles hinterlassen zu können. Wenn sie mal 'nicht mehr wäre', oder würde 'gehen müssen' und wie sie es sonst noch umschrieben hatte, um das Unaussprechliche nicht auszusprechen. Besser so, als hätte sie ihm das Geld noch mit 'warmen Händen' geschenkt; er hatte kein Talent, Dankbarkeit... nein, überhaupt Gefühle zu zeigen. Die Gefühle damals hatte er auch nicht wirklich 'gezeigt', nicht mal empfunden; sie waren einfach so passiert. Seine Mutter hatte oft beklagt, wie wenig einfühlsam er sei. Und vermutlich zurecht; Nadines Gefühle waren ihm auch stets ein Buch mit sieben Siegeln gewesen. Und nun? Was sollte er mit so viel Geld anstellen? Es auf den Kopf hauen, ein Jahr Party machen? Er würde schon Helfer finden, die Kohle durchzubringen. Er stand auf, um sich noch einmal in der Wohnung umzusehen, die einmal sein Zuhause gewesen war, Abschied zu nehmen. Die Beräumung würde er vom Sozialkaufhaus vornehmen lassen, denn er hatte auch keine Lust auf Gefühle; am Ende könnte er doch noch sentimental werden. Aber heute war es ihm egal, würde er Wehmut sogar begrüßen, um nicht gar so gefühlskalt daherzukommen. Sie hatte sein Kinderzimmer belassen wie es war, als er gegangen ist. Und sogar Staub auf dem 'Altar' gewischt; er strich über das Regalbrett mit seinem Bild und den 'Exponaten' seiner Jugend. Doch auch bei deren Anblick empfand er nichts, allenfalls Erheiterung. Die Entrümpler würden das ganze Zeug unbesehen in die Tonne kloppen; welche Jungs spielten heute noch mit Modellautos, und Raritäten waren eh nicht darunter. Mit seinen war gespielt worden, oft Stunde um Stunde denselben Parcours mit demselben Auto, nie mit mehreren zugleich. Erst dann war es eine echte Rallye mit ihm ganz klein im Auto, oder eine richtige Reise und er der Fahrer des Reisebusses. Wie andere Jungen Lokomotivführer oder die schlauen Piloten werden wollten, hatte er Busfahrer werden wollen, aber nicht für Stadtbusse, weil die ständig anhalten mussten, sondern für Reisebusse. Natürlich die modernen, großen, hohen, oder bei den kleineren die Oldtimer mit den abgerundeten 'Panoramascheiben' seitlich im Dach, um die Gipfelkreuze sehen zu können. Er musste schmunzeln. Warum war er nicht einfach Busfahrer geworden? Oder zur Not statt einfach schwierig; seine Lehre war auch nicht leicht gewesen. Und den LKW-Führerschein hätte er – wie so viele – bei der Bundeswehr machen können, statt den Wehrdienst zu verweigern. Was er eh nicht mehr verstand. Er hatte Nadine nicht so lange allein lassen wollen, fiel ihm der Grund wieder ein. Und später wäre ein Busführerschein viel zu teuer gewesen; außerdem hätte er als Reisebusfahrer oft von zu Hause weg sein müssen, was ihm... was ihnen beiden das Herz gebrochen hätte. Und nicht nur seiner Eifersucht wegen. Was war er stolz gewesen, dass grad er als einer der Ersten mit einem Mädchen ging und es als Allererster richtig mit ihr 'gemacht' hatte. Das böse Erwachen war erst viel später gekommen. Bei ihm kam – mit dieser einen Ausnahme – alles stets zu spät, einschließlich der Reue. Obwohl,... – er sah wieder zum Regal – ...was, wenn er das Geld, sein Erbe dazu verwenden würde, das Versäumte nachzuholen? Der Gedanke elektrisierte ihn, und er wünschte nun doch, seine Mutter könnte ihn von da oben sehen.



Ihr Entschluss

Ja, sie war inzwischen wieder bereit für einen Mann, einen Partner und sogar für die Liebe. Pryscilla lächelte in den Spiegel, und wäre sie ein Mann, hätte sie die da... zumindest nicht von der Bettkante gestoßen. Aber auch erst, seitdem sie mit ihren Sommersprossen Frieden geschlossen hatte. Die im Gesicht waren ja nicht das Problem; Männer fanden sie meistens okay – sofern sie als kleine Jungs auf Pipi Langstrumpf gestanden hatten –; einige wenige hatten sogar behauptet, darin 'vernarrt' zu sein, aber nach dem Auspacken hatte es ihr nicht nur einmal dreckiges Grinsen eingetragen oder die Beteuerung der Männer, dass es sie nicht störe... mit einem gedehnten '...ganz im Gegenteil' am Ende. Dann aber nahmen sie ihre Haut zum Anlass, sich an ihr für diesen Makel schadlos zu halten, einige sogar, sie wie ein geschecktes Tier zu behandeln. Dabei war ihre Haut im Dunklen ebenso glatt wie die nicht gesprenkelter Frauen, wenn nicht glatter und scheinbar porenlos. Nein, Frieden mit ihrem Aussehen hatte sie schon einmal während der Zeit mit Paolo geschlossen, der wohl wirklich ein bisschen 'verschossen in ihre Sommersprossen' gewesen war und sie so von ihrem Kindheitstrauma erlöst hatte. Jedenfalls vorübergehend. Inzwischen hatte Pryscilla ihren Körper sogar lieb; einer musste es ja tun. Es lebte sich gut darin, und er sah hübsch aus, wie sie fand; jetzt musste nur noch ein Mann her, der das ebenso fand. Sich zumindest nicht daran störte, war der alte Komplex zurück. Sie hob die linke, etwas schwerere Brust, wog sie in der Hand und freute sich beim Loslassen, dass sie noch immer nachwippte. Und der Bleistifttest funktionierte auch noch nicht. An Tätowierungen nahm doch auch niemand mehr Anstoß, und die waren vorsätzlich entstanden, nicht eine Laune Gottes. Der hatte sie bestimmt auch lieb, sonst wäre sie jetzt nicht hier, vielleicht schon nichtmal mehr am Leben. Es hatte Zeiten gegeben, da war sie anderer Meinung gewesen, hatte den Glauben verloren; er aber hatte ihr immer wieder neue Kraft gegeben, und sei es nur der Mut, wieder mal wegzulaufen. Sie streckte übertrieben den Bauch heraus; der war besonders wild gesprenkelt, und dann später noch mit vorgestülptem 'Suppentrulli', den sie bei Schwangeren immer besonders... 'bemerkenswert' fand – nett ausgedrückt. Aber der musste sie ja nicht mit der Wampe fotografieren, geschweige denn drauf küssen. Sie war gespannt, wie ein Mann... der Mann aussehen würde, der sie liebte, so wie sie nun einmal war. Und sie war inzwischen sicher, dass es den da draußen gab. Aber es waren ja nicht nur der Babywunsch und die biologische Uhr, die immer lauter tickte. Nein, sie hatte auch Lust auf das Zusammensein mit einem Mann... ein liebevolles Zusammensein. Konnte ein Körper so schnell vergessen, was man ihm angetan hatte? Offenbar. Und nicht vergessen, wie wunderschön das sein konnte. Verstohlen sah sie auf den Unterarm; das da würde ihr Körper wohl niemals vergessen können und sie nicht, wie es gestunken hatte und sich Erniedrigung anfühlte.

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