1 // Ash

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"Jetzt hilf mir doch mal", knurrte ich und stemmte mich mit meinem gesamtem Gewicht gegen die verfluchten Zeltpfähle.
Grinsend hob Scar die Hände und schlenderte zu mir herüber. "Ist ja gut. Ich rette dich ja schon."
"Ha ha", stieß ich zwischen den Zähnen hervor, während mir der Schweiß von der Stirn perlte.
Der Sturm der letzten Nacht hatte viele der Zelte beschädigt und das große Essenszelt, welches von schweren, dicken Holzpfähle getragen wurde, in sich zusammenfallen lassen.
Alle waren seit heute früh damit beschäftigt, das Lager aufzuräumen.
Wir ächzten, bis wir es endlich geschafft hatten, das Zelt wieder aufzubauen. Aus einiger Entfernung beobachtete uns Kay. Ihre Lieblingskojotin, die ihr auf Schritt und Tritt folgte und die sie auf den Namen Nala getauft hatte, schnurrte um ihre Beine.
"Willst du uns nicht mal zur Hand gehen?", rief ich zu ihr herüber, woraufhin sie mit einem kecken Grinsen die Arme verschränkte und an mir herabblickte.
"Ich sehe euch lieber beim Arbeiten zu", entgegnete sie mit einem Blitzen in den Augen, dass mich ungewollt grinsen ließ, und lief zu uns herüber.
Außerdem, ertönten ihre Gedanken, als sie näher an mich herantrat, kann ich dir ja heute Abend noch... zur Hand gehen.
Der zweideutige Unterton darin war klar zu hören.
Vorwurfsvoll stieß ich die Luft aus und betrachtete meine Freundin kopfschüttelnd. Solche Gedanken sollte sie mir doch nicht einfach in den Kopf setzen...!
Tut mir leid, dachte sie, aber es tat ihr ganz offensichtlich alles andere als leid. Ich kann einfach nicht anders, als daran zu denken, wenn ich dich sehe.
Ich grinste leicht und zog mir dann kurzerhand das verschwitzte, schwarze T-Shirt über den Kopf.
"Dann gönne ich dir doch mal einen guten Anblick", konterte ich leise und Scar blickte grinsend zwischen uns hin und her. Die Gedanken der beiden übertönten sich jetzt gegenseitig, aber immerhin waren wir etwas abseits der restlichen Campbewohner.
Mein Kiran war ein einziger Fluch und einer der Gründe dafür, weshalb ich am liebsten alleine war. Oft mied ich Feierlichkeiten in Elpida, wie das Neumondfest, weil alle Gedanken wirr durcheinander waberten und ich die ganze Zeit irgendwelche unverständlichen Fetzen aufschnappte. Manchmal wünschte ich mir, diese Fähigkeit nur für ein paar Stunden einmal abzulegen und einfach nur ein ganz normaler Kerl zu sein.
Kay störte es immerhin nicht. Ich hatte schon Freundinnen gehabt, die es gestört hatte oder die es wiederum etwas zu interessant gefunden hatten. Als wäre ich ein Spielzeug oder eine exotische Errungenschaft. Als wäre das alles, was mich ausmachte. Ich wurde nicht gerne mit dem Gedankenhören in Verbindung gebracht und deshalb gefiel es mir, dass Kay es so gut wie nie zur Sprache brachte und es annahm, so als sei es vollkommen normal. Im Gegensatz zu den meisten anderen, dachte sie kaum darüber nach. Ich wusste, dass die anderen es meist nicht mit Absicht taten. Wie Carter, der oftmals angestrengt versuchte, an etwas Unverfängliches zu denken und dem es augenscheinlich nicht gefiel, dass jemand so viel über ihn wusste, den es doch gar nichts anging. Wenn jemand so dachte, fühlte ich mich immer wie ein Eindringling. Als würde ich etwas Verbotenes tun. Doch ich konnte nichts dagegen tun. Die Gedanken waren einfach da. Wie gesprochene Worte, wenn auch etwas leiser und manchmal weniger verständlich. Ab und zu erhaschte ich auch kurze Bilder, aber das war seltener. Als ich noch sehr jung gewesen war, hatte ich das Gedankenhören für normal gehalten. Ich dachte, jedem ginge es so. Bis mir schlussendlich bewusst wurde, dass ich anders war, ein seltsamer kleiner Freak. Dieses Gefühl gab mir vor allem mein eigener Vater. Seine Gedanken waren stets so düster gewesen, wie die von kaum jemandem sonst. Ich hatte durch meine Fähigkeit schon früh Dinge aufgeschnappt, die nicht für die Ohren eines kleinen Jungen bestimmt waren. Und während viele andere Kinder mich für diese Gabe beneideten, wollte ich sie schon immer einfach nur los sein. Schon alleine das Wort 'Gabe' widerte mich an.
"Scar!", unterbrach uns eines der Kinder und stellte sich mit vorwurfsvoll in die Seiten gestemmten Armen vor uns.
Hawk war eines der nervigeren Kinder, vor allem weil er ununterbrochen plapperte - sowohl in seinen Gedanken als auch laut.
Automatisch drehte ich mich etwas weg. Ich verstand nicht, wie Scar es aushielt, ständig für alles und jeden die Ansprechperson zu sein und doch immer ruhig, freundlich und geduldig blieb. Außer es ging um Lobo. Doch von dem hatten wir glücklicherweise lange nichts mehr gehört. Er lebte jetzt im äußeren Camp Mare an der steinigen Küste des Waldes.
"Was gibt es, Hawk?", fragte Scar gelassen und beugte sich zu ihm herunter.
"River hat schon wieder gesagt, dass sie mich verhauen will."
Ich unterdrückte ein Augenrollen. Petze.
Auch Scar musste sichtlich seine ernsthafte Miene wahren.
Vielleicht hat sie ja gute Gründe dazu, dachte er belustigt, während Hawk sich gedanklich beschwerte, dass seine Sorgen gegenüber River nicht ernst genommen wurden und sie bevorzugt würde.
Ich entfernte mich etwas von den beiden und steuerte dann auf den Wasserkessel zu, um mir etwas zu trinken in einen Tonbecher zu füllen.
Sobald meine Hilfe in Elpida nicht mehr gebraucht würde, würde ich ausreiten, vielleicht sogar bis zum Strand, um meinen Kopf etwas zur Ruhe zu bringen. Immerhin hatte sich alles in den letzten Wochen wieder halbwegs beruhigt. Laut Logan hatte die Stadt politische Vertreter gewählt, die jetzt ein Friedensabkommen mit Coyote und den restlichen Anführenden der Camps unterzeichnen sollten. Die Zeit der Angst und Sorge war anstrengend für mich gewesen und hatte an meinen Nerven gezehrt. Kaum jemand hatte einen positiven Gedanken gehabt und ich hatte nicht bloß meine eigenen Befürchtungen, sondern auch die aller anderen ertragen müssen.
In den letzten Nächten hatte ich mehrmals geträumt, dass Kay wieder verschwunden war, einmal hatte ich sogar ihre von den Hyänen zerfledderte Leiche gefunden und war atemlos aufgeschreckt. Aber als ich sie neben mir gesehen hatte, die kurzen braunen Wellen von Haaren rund um ihren Kopf ausgebreitet wie ein Kunstwerk und in ein dünnes, durchsichtiges Nachthemd gehüllt, hatte ich sie zufrieden zu mir herangezogen und fest in meine Arme geschlossen. Sie hatte nur schläfrig in mein Ohr gelacht über meinen plötzlichen Überschwang an Zuneigung. Ich liebte dieses Lachen.
Und ich war so unfassbar dankbar, dass sie in Sicherheit war. Aber ich weigerte mich, ihm dankbar zu sein. Ich wusste nicht, weshalb mein Vater beschlossen hatte, ihr zu helfen, aber ich hatte entschieden, dass ich es nicht wissen wollte. Seit jenem Tag in seinem unterirdischen Geheimversteck, von dem auch ich nichts gewusst hatte, hatte ich ihn nicht wiedergesehen und ich konnte nicht sagen, dass ich traurig darüber war. Er war kein Teil meines Lebens mehr. Er sollte keiner sein. Und was auch immer seine Beweggründe waren - sie interessierten mich nicht.

𝑾𝑨𝑳𝑳𝑺 - Hinter dem Wald die Wahrheit (Teil 2)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt