Herbstleuchten

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Es war ein Spätsommerabend, eigentlich schon Herbst, doch noch angenehm warm.

Der orange leuchtende Himmel war von Wolkenfetzen durchzogen, die Sonne ließ alles in goldenem Licht erstrahlen. Wir saßen unter der Buche in Lilys Garten, ich hatte den Rücken gegen die Rinde gelehnt und meine Beine ausgestreckt. Das Gras kitzelte meine nackten Unterschenkel.
In meinem Schoß ruhte Lilys Kopf. Ihre Haut schimmerte hell, und die Sonne malte ihre Züge weicher, als sie sowieso waren. Sie hatte die Augen geschlossen, ein friedliches Lächeln auf den Lippen. Ihre Haare breiteten sich wolkenförmig aus und hingen auf den Boden, was sie jedoch nicht zu stören schien. Gedankenverloren zupfte ich ein Blatt heraus und zerbröselte es zwischen den Fingern. Es war orangerot, genau wie das Laub ringsherum. In wenigen Tagen würden auch die letzten Blätter über uns bunt verfärbt und Lilys täglicher Blickfang sein.
Sie brauchte nur aus dem Fenster zu sehen, um das Paradies zu finden. Ich konnte mir genau vorstellen, wie sie es sich mit einem Buch und in eine Decke gewickelt auf ihrem Bett gemütlich machte, neben ihr die perfekte Aussicht und dazu vielleicht noch etwas zu trinken.
Denn das würde sie tun... und ich auch. Wir hatten viel darüber gechattet, wie sehr wir diese Zeit liebten, und Listen angefertigt, welche Bücher wir lesen, welche Tees wir trinken und welche Schokolade wir essen würden. (Obwohl wir beide wussten, dass letzteres vor allem sie tun würde.)

Bloß, dass ich dann knapp vierhundert Kilometer entfernt sein würde, im Westen Deutschlands in unserer viel zu kleinen Dreizimmerwohnung, deren Heizung nicht richtig funktionierte. Meine Aussicht war ein Innenhof mit Müllcontainern. Vielleicht sollte ich Lily bitten, mir ein Foto von ihrem Garten zu schicken, damit ich meine Wand damit tapezieren konnte?
Ich zupfte ihr ein weiteres Blatt aus den Haaren und strich dabei über eine ihrer Locken. Sie war wahnsinnig fein und seidig weich. Wie konnte man bloß so schönes Haar haben?
Ja, auch ich hatte das Paradies gefunden. Genau hier, mit - oder vielmehr in - Lily. Doch welchen Sinn hatte das, wenn ich es in ein paar Tagen zurücklassen musste? Ich wünschte, ich könnte einfach zu ihr ziehen... Tatsächlich hätten ihre Eltern nicht mal etwas dagegen gehabt, Platz genug hatten sie ja. Nur konnte und wollte ich meine Mutter nicht alleinlassen.

Einmal mehr konnte ich nicht anders, als mich zu wundern, wie ich es geschafft hatte, ausgerechnet Lily zu kennenzulernen. Von allen Menschen auf dieser Welt... sie. Vor elf Monaten hatte ich ihr eine Nachricht geschrieben, um wieder Kontakt aufzunehmen. Nur ein paar Zeilen, begonnen mit einem simplen „Hey".
Ich hatte sie einfach nicht vergessen können - immerhin war sie eine meiner besten Online-Freundinnen gewesen, damals, vor mittlerweile sechs Jahren. Damals war alles anders gewesen... Und obwohl auch wir uns seitdem verändert hatten, schienen wir noch immer zusammenzupassen. Ich mochte es, mir vorzustellen, dass wir uns gemeinsam verändert hatten. Wie zwei Puzzleteile, die sich so umeinander herum verformen, dass sie sich perfekt ergänzen. (Auch wenn das natürlich Unsinn war, immerhin hatten wir fast fünf Jahre lang keinen Kontakt gehabt.)
Als ich zufällig ihre alte Mailadresse wiederfand... Nie hätte ich mir ausmalen können, was daraus geworden war.

In diesem Moment öffnete sie die Augen und blickte in meine, Kieselgrau traf auf Olivgrün.
"Charlotte." Mir entging der leichte Vorwurf in ihrer Stimme nicht.
"Ja?"
"Hör auf, so viel nachzudenken."

Ich wusste, ich sollte antworten, aber etwas in ihrem Blick raubte mir den Atem.
Sie war so unbeschreiblich schön... nicht nur ihr Äußeres, sondern alles an ihr.
Wie ihre Augen leuchteten, wenn sie über etwas sprach, das ihr am Herzen lag. Ihre Grübchen, wenn sie lächelte, dieses ganz spezielle Grinsen, das ausreichte, um mich besser fühlen zu lassen. Wie sie stundenlang über ihr Lieblingsbuch oder das Geigenstück, das sie gerade lernte, sprechen konnte.
Wegen ihrer Ziele, ihrer Begeisterung und ihres Humors, und weil sie niemals aufgab. Weil sie jeden Menschen so sah, wie er war, und trotzdem immer allen helfen wollte. Ich hatte noch immer nicht verstanden, was sie an mir mochte - doch ich hoffte, dass ich es nie verlieren würde. Sie nie verlieren würde.

Herbstleuchten [Kurzgeschichte]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt