Ohne nachzudenken und bereits zum zweiten Mal an diesem Tag mit Adrenalin geflutet, entreisst er seinem Rucksack ein langes Messer, welches er normalerweise zum Äste schneiden und Holz zerkleinern dabei hat. Nun als Waffe vor sich ausgestreckt und in seiner Sehfähigkeit durch die Dunkelheit eingeschränkt, blickt er hektisch um sich. In seinen Ohren dröhnt das Rauschen seines Blutes und sein Herz kann er in der Kehle pochen fühlen, während seine Narbe am Arm aufdringlich juckt.
Augenblicke später und dabei geschehen für Luciens Sinne zu viele Dinge auf einmal, tritt eine riesige Hirschgestalt mit mächtigem Geweih aus dem Dickicht, die Blumen beginnen stärker zu Leuchten und eine Art Melodie erfasst die Lichtung. Alle Haare an Luciens Körper stellen sich dem Himmel entgegen und seine Atmung wird flach.
«Willkommen Lucien, schön, dass du mir hierhin gefolgt bist, zu diesem kraftvollen Ort», dringt die Stimme aus der Richtung des Hirsches zu ihm.
«Wer bist du?», schreit Lucien beinah, mit sich und seinem Verstand ringend, wer oder was gerade am Durchdrehen ist.
«Ihr Menschen habt viele Namen für mich. Aber du kannst mich einfach Fiacha nennen. Sofern dir nichts kreativeres einfällt.» Beinah glaubt Lucien, dass der Hirsch bei dessen letzten Worten schief gegrinst hat, als sein Verstand ihm diesen Gedankengang vehement untersagt.
«Gut...Fiacha...», kämpft er mit dem altgälischen Ausdruck, «was willst du von mir?» Wieder dieses süffige Lächeln seitens des Hirsches. Vor lauter Perplexität lässt Lucien das Messer langsam sinken und verlässt seine Kampfhaltung. Dies wohlwollend anerkennend, legt der Hirsch seinen Kopf ein wenig schräg.
«Was ich von dir will? Du hast mich gerufen, Lucien Bower.»
«Was? Nein, ich bin der Stimme gefolgt», stammelt er verwirrt, «sie hat mich gerufen.»
«Du kannst die Stimme nur hören Lucien, wenn dein Herz suchend ist. Dein Herz spricht mit uns – immer – und wir hören zu. Wenn sich einer von uns damit resoniert, folgt derjenige dem Ruf. Deshalb bin ich hier, ich habe dich gefühlt.»
«Das ergibt keinen Sinn...», gibt Lucien von sich, während das Messer komplett aus seiner Hand fällt und ihm Tränen in die Augen steigen, ohne, dass er sie hätte aufhalten können.
«Für deinen Verstand ist das sicherlich eine Herausforderung, kämpft er doch schon so lange, versucht dich und Maeve zu beschützen. Aber dein Herz, es weiss alles und es schreit. Es schreit darum endlich gehört zu werden.»
Bilder schiessen Lucien vor Augen, Bilder aus seiner Kindheit. Bilder, die er tunlichst versucht zu verdrängen und die ihn hin und wieder nachts einholen. Bilder, die ihn zu mehr Sport treiben, die ihn dazu bringen, härter zu arbeiten, die ihn panisch das Zimmer von Maeve kontrollieren lassen.
Sein Körper beginnt zu Zittern, während er mit den über ihm zusammenbrechenden Fluten versucht zu kämpfen. Doch wie der Kampf mit Rauch oder Wasser, scheint es beinah unmöglich etwas zu bewirken.
«Du kämpfst gegen dich selbst Lucien.»
«Aber ich will das alles hier nicht.»
«Bist du dir sicher? Wäre ich dann hier?» Lucien weiss nicht, was er darauf erwidern kann, zumal sein strategisches und logisches Denken komplett ausgehebelt zu sein scheinen. «Es lohnt sich, sich den Schatten zu stellen, Lucien.»
«Ich will mich ihnen aber nicht stellen, sie liegen in meiner Vergangenheit, ich habe damit abgeschlossen», knurrt er mit zusammengepressten Zähnen.
«Dann werde ich dir jetzt etwas zeigen, Lucien, etwas, was tief in dir ist.» Aus unerfindlichem Grund hört Lucien sich selbst einwilligen. Wie in Zeitlupe sieht er den Hirsch auf sich zukommen. Dabei nimmt Lucien die sanften, aber unzähligen, runenartigen und leicht leuchtenden Zeichnungen auf dessen Körper und Geweih wahr. Als Fiacha direkt vor ihm steht, erkennt er dasselbe Licht in dessen Augen. Immer tiefer wird er dabei in diese gezogen, bis er den Boden unter den Füssen verliert.
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«Lucien, nein, tu das nicht. Bitte...»
«Maeve, das muss sein, es ist zu deinem Schutz. Du kannst diese Menschen nicht mehr treffen. Sie verraten dich an unsere Erzeuger. Dann wäre alles um sonst gewesen. Willst du das? Sorge ich denn nicht gut für dich? Du hast alles, was du dir hast wünschen können...dafür habe ich gesorgt. Ich habe dir alles ermöglicht.» Luciens Stimme wird immer lauter und sein Körper fühlt sich taumelnd an. Auch seine Zunge will ihm nur langsam gehorchen. Doch von seiner brennenden Wut angestachelt erfüllt sie ihm seinen Dienst, auch wenn es sich widerspenstig anfühlt.
«Ich weiss Lucien, du hast alles für mich gegeben. Ich weiss das wirklich und ich möchte dich dafür lieben. Aber ich sterbe darunter Lucien, ich sterbe unter der Last, die du mir damit aufbürdest.»
«Pah...Last? Welche Last bitte? Du kannst alles haben, was du willst», tobt der Dämon weiter in ihm.
«...ausser ein Leben und Freunde...», murmelt Maeve bedrückt und ein Schmerz zuckt durch Luciens Brust. Das Leuchten ihrer Augen...wo ist es hin?, hallt die Frage giftig in seinem Kopf wider. War ich das? Habe ich ihr das Leuchten genommen?
Ein stechendes Brennen überkommt seine Augen und sein Hass beginnt sich auf ihn selbst zu richtigen. Was habe ich getan? Ich hatte es doch so perfekt geplant...was ist nur schief gelaufen?
Unfähig seine Fragen auszusprechen, fressen sie ein Loch in seine Brust, brennen sie wie Feuer in seinen Venen und wandeln sich zu unbändigem Hass auf sich selbst.
«Dann hau doch ab, wenn es bei mir so schlimm ist!», brüllt er dann unkontrolliert und wirft das was er die ganze Zeit in der Hand hielt in Maeves Richtung. Die dunkle Braunglasflasche verfehlt sie nur knapp und zerbirst mit lautem Klirren an der Wand. Maeves Augen füllen sich mit Tränen.
«Ich kann das nicht mehr Lucien, ich kann es nicht ertragen. Du wirst wie SIE, dabei werde ich dir nicht zusehen», kommen die tränenerstickten Worte von ihr. Blitzschnell – viel zu schnell, als dass er hätte reagieren können – haucht sie ihm einen Kuss auf die Wange und verschwindet nur wenig später aus dem Loft-Apartment.
Das war das letzte Mal, dass er sie sehen würde. Das wusste er, noch bevor das Einrastgeräusch der Tür völlig verhallt war. Die Hände über dem Kopf zusammenschlagend und in Selbsthass verzweifelnd, sackt er auf der luxuriösen Couch zusammen.
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Das Geheimnis von Oak Glen
FantasyLucien Bower lebt mit seiner Schwester in Dublin, sie studiert, er sorgt für sie. Doch vor der Vergangenheit flüchtend, stellt sich die Frage; Ist ihm das überhaupt möglich? Kann er für jemanden Sorgen, wenn er vor seinen Schatten flieht? Seiner Lie...