Fünf Jahre zuvor…
Ebru
„Ich geh dann zur Schule“, sage ich, während Mama und Baba mir vom Esstisch aus zuwinken. Ich winke zurück, ziehe die Tür hinter mir zu und beuge mich, um in meine Schuhe zu schlüpfen. Es erfordert ein wenig Kraft, bis meine Füße schließlich in die eng sitzenden Nike Air Force 1 gleiten. Diese Schuhe, ein Geschenk zum Geburtstag, passen zu fast allem und erinnern mich an die unbeschwerten Tage der Kindheit. Damals dachte ich, sie seien das perfekte Paar – und irgendwie spüre ich, dass das immer noch stimmt.
Heute ist ein Tag, der von gemischten Gefühlen geprägt ist. Einerseits erfüllt mich Vorfreude, andererseits verspüre ich panische Angst vor der Rückgabe der Geschichtsklausur. Beim letzten Mal war es eine Vier, und diese Note ließ mich an meiner Intelligenz zweifeln. In weniger als neun Monaten werde ich mein Abitur haben, und die Vorstellung, endlich zu studieren, ist das einzige, was mich antreibt, während ich durch die ungewisse Zukunft schlüpfe.
Ich laufe die Treppen hinunter, um Canan abzuholen. Glücklicherweise ist sie bereits fertig und zieht sich gerade die Schuhe an. Normalerweise ist sie immer zu spät, sodass ich überrascht bin.
„Was ist denn los mit dir?“, frage ich sie und mustere sie verwundert. Normalerweise finde ich sie mit Zahnbürste in der Hand und im Pyjama vor, doch heute scheint sie seltsam pünktlich.
„Was meinst du?“, fragt sie, während sie sich die Schultasche über die Schulter hängt. Gemeinsam laufen wir die letzten Stufen hinunter.
„Eigentlich müsste ich jetzt mit deinen Eltern am Tisch sitzen und auf dich warten.“ Ich schubse sie spielerisch an, während sie mir die Tür aufhält. „Du zuerst, falls Emilio uns heute wieder erschrecken will“, sage ich und lache bei der Erinnerung an das letzte Mal. Damals hatte Canan ihn vor Schreck mit ihrer Schultasche verprügelt, und ich konnte kaum atmen vor Lachen.
Wir treten nach draußen, und da sitzt Emilio, wie erwartet, auf der leicht feuchten Bank. Er bemerkt uns nicht sofort, denn er ist tief in sein Handy vertieft. Als er schließlich aufschaut, grinst er uns an. „Na, ihr Hübschen?“ Canan grinst zurück, aber ich laufe ohne ein weiteres Wort weiter.
Da ist es wieder – die verdammte Vape in seiner Hand. Er hatte mir versprochen, damit aufzuhören. Jedes Mal, wenn ich das sehe, lodert eine Wut in mir auf. Mein bester Freund, Ayaz, starb letztes Jahr an Lungenkrebs, und jetzt sehe ich, wie Emilio sich dieselbe schädliche Gewohnheit aneignet. Ayaz’ Abschiedsbrief hatte mir befohlen, nicht traurig zu sein. Doch wie soll ich das schaffen? Wie kann ich nicht traurig sein, wenn jemand, der mir so viel bedeutet hat, einfach nicht mehr da ist?
„Es tut mir leid“, murmelt Emilio, aber ich ignoriere ihn und steige stumm in die Bahn ein. Eigentlich sollte ich den Bus nehmen, aber ich brauche etwas Abstand. Als ich mich auf einen der Klappsitze sinken lasse, spüre ich, wie sich meine Anspannung allmählich löst.
Wie können Menschen nur so etwas konsumieren? Ich verstehe es einfach nicht. Ich lehne meinen Kopf gegen die kalte Glasscheibe, wohl wissend, dass meine Locken plattgedrückt werden, doch es ist mir egal. Ich greife nach meinen Kopfhörern, die sich wie immer verheddert haben, und entwirre sie geduldig, bevor ich sie in meine Ohren stecke. Die Musik beginnt zu spielen, und der zufällige Song von Kurdo, der durch meine Kopfhörer dringt, umhüllt mich wie eine sanfte Umarmung. Ich summe den Text in Gedanken mit und lasse mich von der Melodie beruhigen. Ich mag es nicht, wütend auf meine Freunde zu sein, am wenigsten auf Emilio.
Ich erinnere mich an die Klassenfahrt nach Berlin, als wir uns kennengelernt haben. Er war der Einzige, der nicht mit in den Club gegangen ist, weil er lieber in seinem Zimmer „Germany’s Next Topmodel“ geschaut hat. Damals fand ich ihn aufdringlich und nervig, doch mit der Zeit hat er es geschafft, sich in mein Herz zu schleichen und meine Mauern zu durchbrechen. Heute tut er mir fast leid, weil er so verzweifelt versucht, dass ich ihn mag. Und ich muss zugeben, irgendwann hat es funktioniert.
DU LIEST GERADE
Zwischen Stolz und Perfektion
Romance𝐙𝐰𝐢𝐬𝐜𝐡𝐞𝐧 𝐒𝐭𝐨𝐥𝐳 𝐮𝐧𝐝 𝐏𝐞𝐫𝐟𝐞𝐤𝐭𝐢𝐨𝐧 --- Für 𝐀𝐛𝐫𝐮 𝐙𝐢𝐧𝐚𝐫 war das Abitur bisher nicht mehr als ein Spaziergang - leicht, fast mühelos. Und für zwei Jahre lief es genau so. Doch langsam spürt sie den Druck der bevorstehende...